„Mein Kind und mich schon auf der Straße gesehen“ – Immer mehr Mütter von Obdachlosigkeit bedroht

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Die Tür bleibt zu: Für alleinerziehende Mütter ist es besonders schwer, eine bezahlbare Wohnung zu finden. © Wiucha

Plötzlich nimmt das bislang Unvorstellbare Form an, ist das, was meilenweit entfernt schien, greifbar nah. Das Gefühl der Sicherheit verfliegt, Angst macht sich breit. Die Sorge, das Dach über dem Kopf zu verlieren, auf der Straße zu landen, bestimmt das Leben. Diese Erfahrung haben zwei Mütter gemacht, die im Haus Emmaus in Weilheim Zuflucht gefunden haben, beziehungsweise es noch finden werden. Hier erzählen sie anonymisiert, wie es dazu kam.

Noch vor fünf Jahren hätte sie es für ausgeschlossen gehalten, dass Wohnungs- oder Obdachlosigkeit jemals ein Thema für sie sein könnte: Sie war verheiratet, lebte zusammen mit ihrem Mann in einer Kleinstadt im Speckgürtel von München, hatte eine tolle Wohnung und eine Arbeit, die sie erfüllte und bei der sie gutes Geld verdiente.

„Es war ein sehr interessanter, intensiver und anstrengender Job. Ich habe ihn geliebt“, erzählt die Mutter. Sie hatte zwei Ausbildungen absolviert und eine Arbeit gefunden, bei der sie die beiden Berufe gut verbinden konnte. In ihrem Job ging es darum, für Menschen, die auf Reisen in medizinische Notsituationen geraten sind, zu organisieren, dass diese versorgt und gegebenenfalls nach Hause transportiert werden.

Fordernder, gut bezahlter Job

Dieser Job erfordert eine schnelle Auffassungsgabe, flottes Arbeiten, die Fähigkeit, gut mit Stress umgehen und auch unter Druck die richtigen Entscheidungen fällen zu können. Alles Voraussetzungen, die die junge Frau erfüllte. Zudem habe es regelmäßig Situationen gegeben, in denen ihre Kreativität gefragt war. Obwohl es ein fordernder Job war, habe sie ihn sehr gern gemacht, erzählt die Mutter. Sie habe in einem tollen Team gearbeitet, in dem sich die Kollegen gegenseitig unterstützten und stärkten. „Es war eine interessante Arbeit, die gut bezahlt war.“ Dass sie Schichtarbeit leisten musste, dass alle sieben Wochentage abgedeckt werden mussten und es eine Nachtrufbereitschaft gab, habe ihr nichts ausgemacht, erzählt sie.

Zehn Jahre hat sie diese Arbeit mit Leidenschaft ausgeführt. Im Jahr 2020 änderte sich ihr Leben grundlegend: Sie wurde Mutter. Die erste Zeit blieb sie zu Hause und kümmerte sich ausschließlich um ihr Kind. Als dieses eineinhalb Jahre alt war, begann sie wieder zu arbeiten. Sie kehrte an ihren alten Arbeitsplatz zurück, allerdings reduzierte sie die Stundenzahl und arbeitete 50 Prozent. Wenn sie Dienst hatte, kümmerte sich ihr Mann um das gemeinsame Kind. „Ich habe oft am Wochenende gearbeitet, wenn mein Ex-Mann zu Hause war“, erzählt die Frau. Dann habe er für das Kind gesorgt.

Als das Kind etwa zwei Jahre alt war, trennten sich die Eltern. Damit wurde das Leben eine Zerreißprobe für die Mutter. Der Vater des Kindes zog aus der Kleinstadt nach München und schaffte es immer wieder nicht, seine Zusagen einzuhalten und die Betreuung des gemeinsamen Nachwuchses zu übernehmen. „Ich habe versucht, es irgendwie hinzubiegen“, erzählt die Frau.

Sie habe oft im Homeoffice gearbeitet, was die Situation aber nicht entspannt habe. „Ich kann ja von meinem Zweijährigen nicht verlangen, dass es sich stundenlang still beschäftigt, damit ich arbeiten kann“, erzählt die Mutter. „Da sind schlimme Situationen passiert.“ Zum Beispiel habe ihr Kind angefangen, lautstark zu weinen, während sie ein wichtiges Telefonat führen musste. „Es war eine furchtbare Zeit.“

Ihre Familie lebt in Norddeutschland, damit war klar, dass es von dieser Seite keine Unterstützung bei der Betreuung des Kindes geben kann. Auch die Eltern des Ex-Mannes kamen nicht infrage. Die junge Mutter wusste, dass sie ganz auf sich alleine gestellt ist und sie wusste, dass sie Hilfe braucht, weil sie sonst ihre Arbeit aufgeben muss. „Ich wollte meinen Job nicht verlieren, weil mir klar war, dass wenn ich da raus bin, dann werde ich die Wohnung nicht mehr bezahlen können.“ Sie habe ja auch finanziell eine große Verantwortung für sich und ihr Kind, sagt sie.

Sie sei in ihrer Suche nach Unterstützung von Pontius zu Pilatus gegangen, habe sich an alle möglichen Stellen gewandt, weil sie davon überzeugt war, dass es irgendeine Möglichkeit geben müsste, dass sie mit ihrem Kind zusammenleben, weiter arbeiten und ihre Wohnung behalten kann. „Ich war beim Jobcenter, bei der Familienberatungsstelle, beim Jugendamt“, erzählt die Mutter. Sie habe alles versucht, um Hilfe zu bekommen, damit sie ihren Arbeitsplatz behalten kann. „Ich habe bei 20 bis 30 Institutionen nach Hilfe gefragt“, erzählt sie.

Gleichzeitig sei wahnsinnig viel schief gelaufen: Ihr Auto ging kaputt, die Miete für ihre Wohnung wurde erhöht, die Nebenkosten sind gestiegen. 1350 Euro musste sie monatlich für die Wohnung im Münchner Umland nun aufbringen. „Es kam eine Hiobsbotschaft nach der anderen.“ Zudem sei ihr Kind mitten in der Kleinkind-Trotzphase gesteckt und habe sehr viel geweint. „Die Belastung war ganz schlimm“, erinnert sich die junge Mutter. Es habe ein halbes Jahr gedauert, bis das Jobcenter darüber entschieden hatte, dass sie einen Anspruch auf Aufstockung hat.

Sie musste monatelang mit sehr wenig Geld auskommen und hat gespart, wo es ging – manchmal auch am Essen für sich: „Die letzte Woche im Monat habe ich oft wenig gegessen“, erzählt die Mutter, denn sonst hätte es nicht für ihr Kind gereicht. Immer wieder ist sie auf der Suche nach Unterstützung zum Jobcenter und zum Jugendamt gegangen. Bis zum Schluss habe sie nicht glauben können, dass es keine Unterstützung für sie gibt. „Alle haben mir immer nur geraten, ich soll aufhören zu arbeiten“, erzählt die Frau. Und sie habe jedes Mal wieder deutlich gemacht, dass sie gerne weiterarbeiten würde, obwohl sie Mutter ist und obwohl sie im Schichtdienst arbeiten muss. Die ganze Zeit habe sie daran geglaubt, dass sich irgendeine Lösung auftut, dass ihr irgendjemand hilft.

Über ein halbes Jahr hat diese Zerreißprobe angedauert, dann habe sie gespürt, dass es so nicht mehr weitergehen kann. „Nach einem halben Jahr war der Punkt erreicht, an dem ich gemerkt habe, dass wenn ich weiter so alle Bälle in der Luft halte, dann kann ich bald nicht mehr.“ Dass sie unter der Last und der Verantwortung zusammenbricht, das wollte sie auf alle Fälle verhindern, weil sie wusste, dass ihr Kind dann ganz allein dasteht. „Über allem ist immer die Frage geschwebt, was aus meinem Kind wird, wenn mir etwas passiert. Wenn ich ausfalle.“ Sie wusste, dass sich etwas ändern muss.

Eine Woche nachgedacht

Die junge Mutter hat sich eine Woche Zeit genommen, um nachzudenken. „Ich habe mir einen Plan gemacht, in dem ich alle meine Möglichkeiten aufgelistet habe.“ Sie sei alles durchgegangen, habe sich sämtliche Fragen gestellt. Gelingt es, die Wohnung zu halten und im gewohnten Umfeld zu bleiben, wenn sie eine Vollzeitarbeit annimmt und keinen Schichtdienst mehr macht? Kann sie es schaffen, an ihrem jetzigen Arbeitsplatz zu bleiben? Muss sie ihr Umfeld und ihre Wohnung aufgeben und zu ihren Eltern ziehen? Muss sie noch einen anderen Beruf lernen?

„Ich habe die Flucht nach vorne angetreten“, sagt die junge Frau. Sie habe sich entschieden, ein Studium zu beginnen, um auf längere Sicht für ihr Kind da sein zu können und das nötige Geld für sie beide zu verdienen. Damit sei klar gewesen, dass sie ihre Arbeit und ihre Wohnung aufgeben muss, dass sie ihr Umfeld, ihren Freundeskreis in der kleinen Stadt im Münchner Umland verlassen und wieder zu ihren Eltern ziehen muss. Die Entscheidung sei ihr schwer gefallen. „Das war kein leichter Schritt“, sagt die Mutter.

Nun hat sie rund ein Jahr lang bei ihren Eltern gewohnt. Sie sei froh gewesen, dort hingehen zu können, um ein wenig durchzuatmen, aber für sie sei von vorneherein klar gewesen, dass das nur eine Notlösung sei, erzählt die Mutter. Sie stamme zwar aus Norddeutschland, doch inzwischen sei ihre Heimat woanders. „Mein Zuhause ist nicht mehr der Norden.“

Als sie vor ein paar Monaten zu Besuch in Bayern war, hat sie vom „Haus Emmaus“ erzählt bekommen, ist mit ihrem Kind hingefahren und hat ihre Situation geschildert. Dort wurde zufällig eines der Appartements für ein Elternteil mit Kind frei und sie bekam die Zusage dafür. Ihr fiel ein Stein vom Herzen. Nach Jahren des Kampfes und des Gefühls, allein dazustehen, plötzlich eine ausgestreckte Hand. „Ich hatte die Wohnungslosigkeit deutlich vor Augen. Ich habe mein Kind und mich schon auf der Straße gesehen“, erzählt die Frau. In Weilheim habe sie eine ganz andere Erfahrung gemacht, als die Jahre vorher: „Es war so ein schönes Gefühl, gehört zu werden und Hilfe zu bekommen. Zum ersten Mal eine wirkliche Hilfe.“

Zum ersten Mal Hilfe erfahren

Demnächst wird sie also wieder nach Bayern ziehen. Sie möchte ihr Studium beenden. Bei der Wahl des Studiengangs habe sie sich einen Bereich ausgesucht, in dem sich gut Geld verdienen und der sich gut mit einem Kind vereinbaren lasse. „Er soll uns besser stellen, das ist jetzt das Wichtigste“, sagt die Frau. Und auch, wenn sie dann wieder eine Wohnung findet, die sie sich leisten kann: Wie schnell es sie aus allem herausgekickt hat, das wird ihr immer in den Knochen sitzen: „Von einem Leben mit gut bezahltem Job in einer Wohnung bis zu dem, in dem du mit Kind auf der Straße stehst, ist es nur ein kleiner Schritt.“

Sie hatte gerade ihren 20. Geburtstag gefeiert, als sie Mutter wurde. Damals lebte sie noch in der Wohnung ihrer Mutter in ihrem Kinderzimmer in einem Nachbarlandkreis. Ihr war klar, dass das kein Dauerzustand sein würde, dass sie mit ihrem Kind dort keinen Platz haben würde. Sie wusste, dass es Jahre dauern würde, bis sie eine Sozialwohnung zugeteilt bekäme, wenn sie einen Antrag gestellt hat. Sie wandte sich an das Haus Emmaus und hatte Glück: Als ihr Kind zwei Monate alt war, konnte sie in ein kleines Appartement einziehen. „Ich hatte keinen anderen Platz, an den ich gehen konnte“, sagt die junge Mutter.

Seit Beginn der Schwangerschaft habe sie nach einer Wohnung gesucht. Nachdem sie mit ihrem Säugling und ihren Habseligkeiten ins Haus Emmaus eingezogen war, habe sie sofort damit weitergemacht. Dass das Appartement, in dem sie noch lebt, keine Dauerlösung ist, war von Anfang an klar.

Denn die Intention, die hinter der Einrichtung der katholischen Pfarrkirchenstiftung Mariä Himmelfahrt steht, ist als Übergangsstation dafür zu sorgen, dass die Menschen ohne Zuflucht wieder Tritt im Leben fassen und in ein festes Zuhause ziehen können. Die Appartements und auch die einzelnen Zimmer sind möbliert und sollten – im Unterschied zu einer gemieteten oder gekauften Wohnung – nicht mit eigenen Möbeln verändert und eingerichtet werden.

„Damals habe ich noch für drei Personen gesucht“, erzählt sie. Inzwischen ist sie vom Vater ihres Kindes getrennt. Seitdem war sie auf der Jagd nach einer dauerhaften Bleibe für ihr Kind und sich. „Mehr als drei Jahre lang habe ich gesucht“, erzählt die Mutter. In diesen Jahren gab es Zeiten, in denen sie täglich die Immobilienangebote durchforstet, und solche, in denen sie zwei bis drei Mal pro Woche geschaut hat, ob etwas für ihr Kind und sie dabei sein könnte. Nie habe sie länger Pause gemacht. „Ich habe auf allen Seiten im Internet geschaut.“

Die allermeisten seien zu teuer gewesen. Die junge Mutter bezieht Geld vom Jobcenter, das die Mietpreise, die es übernimmt, gedeckelt hat. „Fast alle waren teurer, als es das Jobcenter bezahlen würde.“ Einige hätte vom Schnitt nicht gepasst. Manchmal seien auch Wohnungen angeboten worden, die für sie geeignet und bezahlbar gewesen seien, auf die sie sich dann beworben habe.

Der Druck ist immer größer geworden

Wenn sie überhaupt eine Antwort bekommen habe, dann war das Ergebnis immer das gleiche: „Ich habe nur Absagen gekriegt“, sagt die junge Frau. Die Gründe dafür waren verschieden. Einmal war kein Platz für einen Kinderwagen im Treppenhaus, ein anderes Mal waren ruhige Mieter und keine laute Familie gewollt, die einen Vermieter wollten eine Einzelperson als Mieter, die anderen niemanden, bei dem das Jobcenter die Miete bezahlt.

Weil sie keinen Führerschein hat, kommt auch nicht infrage, auf ein Dorf weiter weg zu ziehen, was die Suche noch schwieriger machte. „Ich habe vor allem in Weilheim geschaut, aber zumindest da ist es fast unmöglich, etwas zu finden“, berichtet die junge Mutter.

Je mehr Absagen sie kassierte, desto mehr geriet sie unter Druck. „Ich wusste ja, dass ich langsam etwas finden sollte. Das Wohnungsthema hat ganz schön an meinen Nerven gezehrt.“ Sie ist dankbar dafür, dass es Anlaufstellen wie das Haus Emmaus gibt, dennoch sei die Anspannung gewachsen. „Der Druck ist innerlich immer größer geworden.“

Mit der Zeit sei die Hoffnung darauf, doch eine Wohnung für ihr Kind und sich zu ergattern, geschwunden. Zugleich sei die Motivation weiterzumachen, immer weniger geworden. „Da hat man keine Lust mehr, weiterzusuchen, wenn man nur Absagen bekommt“, erzählt die Mutter.

Vor ein paar Wochen wendete sich das Blatt: Das Telefon der jungen Mutter klingelte. Es wurde ihr eine Sozialwohnung zu einem auch für das Jobcenter verträglichen Preis angeboten. In Weilheim. Eine feste Bleibe für ihr Kind und sie. Vorausgesetzt das Jobcenter ist einverstanden, dann kann sie demnächst einziehen. „Als der Anruf kam, hatte ich Tränen in den Augen“, erzählt die junge Mutter.

Die Belastung war ganz schlimm.

Ich habe nur Absagen gekriegt.

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