„Ich bin optimistisch, weil die Lage so schlecht ist“: Thomas de Maizière spricht bei den Wirtschaftsjunioren
Zukunftschancen, gesellschaftliche und persönliche Werte, deutsche Sicherheitsängste und dringende Reformbedarfe im Mittelunkt des Sommergesprächs bei den Wirtschaftsjunioren Kempten-Oberallgäu.
Kempten – Der Vorstand habe sich diesmal für das Kornhaus als Veranstaltungsort entschieden, weil das neu renovierte Gebäude genauso für eine Verbindung zwischen Geschichte und Zukunft stehe, wie der Verein der jungen Unternehmerinnen, Unternehmer und Führungskräfte, sagte dessen Sprecher, Andreas Weber, in seiner Anmoderation.
Dem Jahresmotto der Wirtschaftsjunioren „Zukunft gestalten!“ entsprechend sprachen drei regionale Akteure in ihren Grußworten über drei Begriffe, die ihnen bei diesem Thema am wichtigsten erscheinen.
„Chancen und Risiken sind ein Geschwisterpaar“, machte Oberbürgermeister Thomas Kiechle den Anfang. Politik habe die Aufgabe, der Bürgergemeinschaft Chancen zu bieten. In Zeiten, in denen vieles nicht mehr selbstverständlich sei, sollte man die Chance nutzen, gemeinsam aktiv zu werden. Heimatliebe bedeute für ihn persönlich, wertvolle Traditionen zu bewahren und gleichzeitig mutig neue Wege zu gehen.
„Die Bereitschaft, immer neu zu denken, und zwar proaktiv“, bezeichnete Landrätin Indra Baier-Müller als Agilität. Man sollte alte Lösungen immer hinterfragen, Fehler zulassen und flexibel bleiben. Achtsamkeit bedeute eine bewusste Form der Präsenz, bei der man aufmerksam zuhöre, keine schnellen Urteile fälle und gelassen bleibe. Zukunft entstehe nicht daheim auf dem Sofa, sondern bei Aktivitäten, sagte sie. Sie habe Respekt vor den Unternehmen, die die Region mitgestalten.
Trotz Zweifeln, ob irgendwas gelinge, und trotz schlechter Nachrichten sollte man seinen Optimismus nicht verlieren, riet Julia Zwicker, Vorsitzende der IHK-Regionalversammlung Kempten-Oberallgäu. Ein bisschen Naivität könne auch hilfreich sein, wenn man neue Wege gehe, obwohl man nicht auf alle Fragen eine Antwort habe. Rückschläge gebe es immer, deswegen brauche man Durchsetzungsvermögen, um langfristig Erfolg zu haben.
Ein Paradoxon
Die Mehrheit der Deutschen sei mit der eigenen Lebenslage zufrieden, denke aber, dass das Land gerade an die Wand gefahren werde, wies der Hauptredner des Abends, Dr. Thomas de Maizière, auf einen in den letzten Tagen in der FAZ thematisierten Widerspruch hin. Für das deutsche Wort „Sicherheit“ existieren im Englischen drei Begriffe: „safety“, „security“ und „certainty“. Auf den Letzten, der sich auch als „Gewissheit“ übersetzen lässt, viel Wert zu legen, sei eine typisch deutsche Eigenschaft, betonte der ehemalige Bundesminister.
Für die Deutschen existierten vier Grundgewissheiten: Hier gibt es keinen Krieg (1) und keinen Mangel (2). Wir haben immer Wachstum (3) und unser Staat funktioniert (4). Diese wurden in letzter Zeit allesamt erschüttert. Man ging in der gesamten Nachkriegszeit immer davon aus, dass es die eigenen Kinder besser haben würden.
Er halte es für das Best-Case-Szenario, wenn es den Menschen am Ende des Jahrhunderts genauso gut gehe, wie uns jetzt, meinte der Referent. „Ich weiß nicht, wie es weitergeht“ – das sei die aktuelle Wahrnehmung, die den Menschen Sorgen bereite. Die Reaktion sei oft ein Rückzug in das eigene Schneckenhaus oder Aggression und nicht Optimismus.
Wer soll es machen?
De Maizière griff die Frage im Titel der Veranstaltung auf: „Zukunft gestalten – wer soll das eigentlich machen?“. Der Staat, meinten viele Bürgerinnen und Bürger. Dass der Staat dazu da wäre, der Jugend Perspektiven zu geben und die Menschen von allen Risiken zu befreien, sei eine weit verbreitete Meinung. Er habe das schon immer für falsch gehalten, betonte der Referent und stimmte Kiechle zu: Der Staat müsse den Leuten Chancen bieten. Ob sie die zur Verfügung gestellten Schwimmbäder, Theater oder ÖPNV-Angebote nutzen, sei dann ihre Entscheidung.
An dieser Stelle erinnerte der Gastredner an die vor ein paar Jahren geführte Debatte in der Hirnforschung. Alles sei vorbestimmt, durch Chromosomen, Sozialisation, chemische Prozesse im Gehirn, behauptete die eine Seite. Die andere, zurzeit vorherrschende Meinung sagt, dass es doch einen Spielraum für die persönliche Freiheit gebe. Wen jemand heirate oder ob jemand wie Zwicker mit 20 Jahren ein Hotel eröffne, sei nicht immer vorbestimmt.
Und diese Freiheit habe einen Preis: den der Unsicherheit. Die Menschen heiraten, obwohl sie wissen, dass jede dritte Ehe geschieden wird. Sie gründen ein Geschäft, obwohl sie damit auch scheitern können. „Deswegen ist die Einstellung, alles muss gewiss sein, ein Fehler“, zog de Maizière die Schlussfolgerung. „Und sie entspricht nicht dem Grundgedanken der freiheitlichen Gesellschaft.“
Da es im Moment viele Ungewissheiten gebe, sei das Ziel, diese zu reduzieren, betonte der Redner, um gleich die Frage zu stellen: Wer soll das tun? Den Staat dürfe man nicht überfordern, aber er habe hier klar eine Aufgabe, hieß seine Antwort. Und dafür gelte der wichtigste Lehrsatz seines Vortrags: „Der Staat muss können, was er können soll.“ Er fügte hinzu: „Und das ist verdammt viel.“
Seiner These nach entspreche aber der Staat im Moment dieser Erwartung nicht, weil er sorglos mit der Sicherheit umgehe, zu langsam bei der Digitalisierung sei, Entscheidungen und Prozesse zu kompliziert gestalte und sich bei Zuständigkeiten verheddere. „So kann es nicht bleiben“, hieß sein Fazit.
Thomas de Maizière in Kempten: Vorschlag Staatsreform
Deshalb habe er mit dem ehemaligen Bundesminister Peer Steinbrück, dem früheren Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle und der Medienmanagerin Julia Jäkel gemeinsam die „Initiative für einen handlungsfähigen Staat“ ins Leben gerufen. Die vier Personen verbinde, dass sie nicht mehr interessenorientiert seien, da sie nichts mehr werden wollten, und dass sie den „Maschinenraum des Staates“ sehr gut kennen würden. Die Schirmherrschaft übernahm Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, dem sie bereits im März ihren Zwischenbericht mit 30 Vorschlägen und in dieser Woche den Abschlussbericht mit 35 Empfehlungen überreicht haben.
In der Politik rede man gerne darüber, wer was werden soll. Bei den Entscheidungen darüber, was geschehen soll, entstehe schnell Einigkeit, stellte de Maizière fest. Aber man beschäftige sich zu wenig mit der Frage „Wie geht das?“ Der Begriff „ein Gesetz verabschieden“ sei irreführend. Man sagt dem Gesetz nicht Tschüss, sondern man setzt es in Kraft.
„Durch die Verabschiedung ändert sich nicht die Wirklichkeit. Viele Gesetze bewirken Nullkomma null“, sagte er. Oft bekomme er aus den Verwaltungen zu hören, so wie es in den Paragrafen stehe, könne man es nicht umsetzen: „Man hätte uns vorher fragen können.“ Es reiche nicht, schöne Kompromisse zu erzielen, diese müssten auch praktikabel sein.
Pragmatische Lösungen erst einmal ausprobieren
Anschließend ging der Referent auf einige der zentralen Empfehlungen ein: Schaffung eines nationalen Sicherheitsrats, die strikte Trennung von Zivil- und Katastrophenschutz abschaffen, ein Lagezentrum auf der Ebene der Bundesregierung ins Leben rufen. Die jetzige Misstrauenskultur ist durch eine Vertrauenskultur zu ersetzen. Anstelle detaillierter Vorschriften schlagen die Experten mehr Kontrollen vor. Den Mut zu haben, neue, pragmatische Lösungen auf der Ebene von drei bis vier Landkreisen auszuprobieren, wird empfohlen.
Ein kommunales Abweichungsrecht steht ebenfalls auf der Agenda: Wenn beispielsweise ab 18 Kindern eine neue Kindergartengruppe eröffnet werden muss, aber dafür weder Räume noch Personal vorhanden sind, dürfte in diesem Sinne der Stadtrat entscheiden, eine größere Gruppe in Kauf zu nehmen. Um im digitalen Bereich voranzukommen, muss eine umfassende Behördenstrukturreform her. Es gehe nicht, dass man ein Auto von Kempten nach Dresden nicht einfach ummelden könne, weil die Systeme nicht kompatibel seien.
Auch der Sozialstaat muss vereinfacht werden. Wenn heute eine alleinstehende Frau mit einem pflegebedürftigen Vater Unterstützung braucht, hat sie Anspruch auf 13 Sozialleistungen, die von fünf unterschiedlichen Behörden abgewickelt werden und nach drei Einkommensgruppen gestaffelt sind. Der Datenaustausch unter den Behörden ist an sich ein Riesenproblem. Er freue sich darüber, dass sich 70 Prozent der Vorschläge im Koalitionsvertrag widerspiegeln. Aber auch hier gelte: Großartige Ideen bringen nichts ohne nachhaltige Umsetzung.
Thomas de Maizière in Kempten: Vorschlag Bürger aktivieren
Zuletzt ging er darauf ein, was sich bei den Bürgerinnen und Bürgern ändern müsse. An erster Stelle stehe das Aushalten von Freiheitsräumen. Der Verzicht auf eine Supergerechtigkeit für jeden einzelnen, das Akzeptieren von Pauschalisierungen und unterschiedlichen Entscheidungen seien die Folge. Wenn man beispielsweise an den Schulen ein Handyverbot ausspreche und der Schulleiter Ausnahmen genehmigen dürfe, müsste das ausreichen, ohne extra Gutachten einzubringen und Vergleiche mit den Entscheidungen in anderen Schulen zu ziehen.
Der Gast fordert mehr Engagement von Bürgern
De Maizière wünsche sich von den Menschen mehr Ehrgeiz und Leistungsbereitschaft, eine „Wir-wollen-die-Besten-sein-Mentalität“. Der Staat soll aufhören, für Privaträume nach Lösungen zu suchen: Statt einer Einsamkeitsstrategie sollte er sich auf die Schaffung einer guten Infrastruktur konzentrieren. Die Hälfte der Vorschriften, die Unternehmen ärgern, stammten von Berufsgenossenschaften. Viele derartige Organisationen könnten durch das Engagement von Bürgern ersetzt werden, meinte der Referent. Zusammenfassend gelte die Aussage: „Die Bürgerinnen und Bürger müssen wollen, was sie können“.
Während des Vortrags hatten die Zuhörer die Möglichkeit, mithilfe einer App Fragen zu stellen, die dann vom stellvertretenden Sprecher der Wirtschaftsjunioren, Dominik Mayr, vorgestellt wurden. Die Palette der angesprochenen Themen war groß: Bei der Arbeitskräftezuwanderung brauche man auch praktische Lösungen, klare Zuständigkeiten und weniger Fixierung auf Abschlüsse.
Bei der Integration sollen die Gemeinden, bei Abschiebungen der Bund die Zuständigkeit erhalten. | Viele gesellschaftliche Spannungsfelder lassen sich nicht auflösen, sie müssen ausgehalten werden. Die typisch deutsche Sehnsucht, für alles eine Lösung zu haben, könne nicht erfüllt werden. | Er plädierte für die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht, der nicht unbedingt an der Waffe sein muss. | De Maizière sieht es kritisch, dass die Deutschen auf Datenschutz pochen, wenn es um Verbrecherjagd geht, aber ihren Standort sorglos bekanntgeben, um eine gute Pizza zu bekommen.
„Ich bin optimistisch, weil die Lage so schlecht ist“, sagte er am Schluss und griff den von der Versicherungswirtschaft übernommenen Begriff des Soziologen Steffen Mau auf: „Allmählichkeitsschaden“ heißt, wenn es im Bad tropft und es keiner merkt. Unbemerkt entsteht ein großer Schaden. Das sei in Deutschland nicht der Fall, aber man müsse den Keller gründlich aufräumen. „Ich hoffe, Sie machen mit“, schloss Thomas de Maizière die Diskussion.
Feste, Konzerte, Ausstellungen: Was man in Kempten und Umgebung unternehmen kann, lesen Sie im Veranstaltungskalender.
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