„Ist keine Wunderwaffe“: Ukraine-Offizier zweifelt am Nutzen der deutschen Taurus-Marschflugkörper
Der Bundeskanzler bleibt beim „Nein“ zur Taurus-Lieferung. Womöglich wird die Relevanz der Marschflugkörper für die Ukraine ohnehin überschätzt – das behauptet ein Experte.
Berlin/Kiew – Die Aussage war deutlich wie eh und je, wenn Olaf Scholz (SPD) über den Taurus spricht. „Es gibt Waffen, die kann man nur liefern, wenn man über alles, was damit gemacht wird, die Kontrolle behält“, sagte der Bundeskanzler am Samstag (27. April) bei einem SPD-Bürgerdialog in Lüneburg, und bekräftigte damit eine Haltung, die er schon seit einigen Monaten immer wieder öffentlich verteidigen muss: sein „Nein“ zu einer Lieferung des deutsch-schwedischen Waffensystems Taurus an die Ukraine.
Dass der Taurus eben diese Definition erfüllt, daran ließ Scholz nämlich keinen Zweifel. „Das ist ein Marschflugkörper, der 500 Kilometer weit fliegen kann, wenn man das richtig macht. Und der ist auch effektiv und präzise. Damit können wir direkt ein Wohnzimmer ansteuern“, stellte Scholz heraus. Eine Lieferung sei nur verantwortlich, wenn Deutschland die Kontrolle über die Zielsteuerung behalte. „Das dürfen wir aber nicht machen. Weil, wenn wir das täten, wären wir beteiligt an dem Krieg“, so Scholz weiter. Und diese Grenze habe er sehr eindeutig beschrieben. „Es wird keine deutschen Soldaten, keine Nato-Soldaten in diesem Krieg geben“, sagte der Bundeskanzler. Auch das hat er schon oft wiederholt.

Militärexperte über deutschen Taurus: „Kein Allheilmittel“
Was zunächst einmal nach schlechten Neuigkeiten für die derzeit stark bedrängte Ukraine klingt, ist möglicherweise weit weniger dramatisch als gedacht. Denn obwohl das EU-Bewerberland bereits seit Monaten auf eine Lieferung der deutschen Marschflugkörper drängt, werden sie den Ukraine-Krieg wohl nicht entscheiden. Darauf deuten jedenfalls Aussagen des Militärexperten Petr Chernik hin. „Der Taurus ist kein Allheilmittel“, sagte der Reserveoberst der ukrainischen Streitkräfte jüngst gegenüber der Nachrichtenagentur UNIAN (Ukrainian Independent News Agency).
Wie UNIAN in einem Artikel am Montag (29. April) schreibt, meint Chernik, dass die Taurus-Marschflugkörper der Ukraine nur im Verbund mit ATACMS-Raketen dabei helfen könnten, Strukturen wie die Krimbrücke zu zerstören. Diese aber können längst nicht so weite Distanzen überwinden wie der Taurus. Selbst die modernen ATACMS-Systeme, mit denen die USA die Ukraine jetzt ausstatten wollen, schaffen lediglich 300 Kilometer. „Wenn wir über die Qualität solcher Waffen sprechen, ist es sehr zweifelhaft, dass es bei einem gemischten Angriff eine Reichweite von bis zu 500 Kilometern gibt“, zitiert die Agentur Chernik. Es wäre zwar gut, wenn die Taurus-Raketen kämen, „aber ich würde nicht sagen, dass es sich um eine Art Wunderwaffe handelt“, so der Experte.
Scholz lehnt Taurus-Lieferung ab, weil er keine Bundeswehr-Soldaten in der Ukraine will
In Deutschland wird seit langem äußerst kontrovers über den Taurus diskutiert. Ob die Bundesrepublik die Ukraine mit den Marschflugkörpern ausstatten soll, schien zwischenzeitlich sogar die Ampelkoalition ins Wanken zu bringen. Mehrere Male schon hat der Bundestag in diesem Jahr gegen eine Lieferung des Waffensystems an die Ukraine gestimmt – und sich damit hinter den Kanzler gestellt. Scholz lehnt es ab, der Ukraine den Taurus zur Verfügung zu stellen. Das werde sich auch nichts ändern, sagte er erst am Mittwoch (24. April) auf einer Pressekonferenz in Berlin.
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Wie die Tagesschau am Sonntag schreibt, hat das zwei Gründe. Einerseits könnte der Marschflugkörper von der Ukraine aus russisches Staatsgebiet erreichen und dort dann etwa Waffendepots oder Kommandozentralen zerstören. Andererseits erkläre Scholz seine Haltung damit, dass deutsche Soldaten für die Zielführung der Marschflugkörper gebraucht werden würden. Damit wären Bundeswehr-Angehörige direkt an Einsätzen beteiligt – das kommt für den Kanzler nicht infrage.
„Wir machen das Meiste, aber wir machen es klug abgewogen, zum richtigen Zeitpunkt und mit aller Konsequenz“, zitiert die Tagesschau den Kanzler auf dem SPD-Europawahl-Auftakt in Hamburg. Unter seiner Führung werde Deutschland als größter Waffenlieferant weiter an der Seite der Ukraine stehen, aber eine direkte Konfrontation der Nato mit Russland vermeiden. Das unterstützt wohl auch die Mehrheit der Bundesbürger. Laut ARD-Deutschlandtrend lehnten im März 2024 immerhin 61 Prozent die Taurus-Lieferung ab, nur 29 Prozent waren dafür.
Experten uneinig über Wichtigkeit von Taurus-Marschflugkörpern für Ukraine-Krieg
Insbesondere für die zweite Begründung – den etwaigen Einsatz deutscher Soldaten – war Scholz in der Vergangenheit dennoch stark kritisiert worden. Viele Fachleute bezweifeln den Automatismus, dass die Bundeswehr unbedingt an Ort und Stelle involviert sein müsse. Der Bild-Zeitung soll der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj unlängst erzählt haben, dass Scholz ihm gegenüber gesagt habe, dass Deutschland als Nicht-Atommacht der Ukraine nicht seine „stärkste Waffe“, den Taurus, schicken könne. Diese Behauptung wollte Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) in der vergangenen Woche nicht bestätigen, ein direktes Dementi gab er aber auch nicht ab. „Ich weiß nicht, ob er das gesagt hat“, meinte Pistorius in der ARD.
„Kein Wundermittel“ oder „stärkste Waffe“ – über die Wirksamkeit des Taurus gehen die Meinungen auseinander. So tritt auch Alexander Kovalenko auf die Bremse. „Taurus ist keine einzigartige Wunderwaffe“, zitiert UNIAN den Militärexperten. Seiner Meinung nach sei die Funktionalität der Taurus-Marschflugkörper identisch mit Storm Shadow/SCALP-EG-Raketen, und diese nutzt die Ukraine bereits seit dem Mai 2022 mit großem Erfolg gegen die russischen Angreifer.
Andere sehen die Marschflugkörper weiterhin als ideales Mittel, um die Krim-Brücke zu zerstören. Das ist eines der wichtigsten Kriegsziele der Ukraine, denn die Brücke verbindet die Halbinsel Krim mit dem russischen Festland. Sie hat für Kremlchef Wladimir Putin eine hohe militärische, aber auch symbolische Bedeutung.
So vermutet der Luftfahrtexperte Waleri Romanenko, dass Bundeskanzler Scholz gerade deshalb so auf seinem „Nein“ beharrt. Die Reichweite des Taurus bedeute „den klaren Tod der Krimbrücke“, sagte er laut UNIAN jüngst im Sender Kyiv24. „Scholz will das nicht.“ Ihm zufolge befürchte der Kanzler, „dass die Russen einige Maßnahmen verstärken werden, aber sie haben bereits alles intensiviert, was sie konnten“. Er fragt: „Warum haben sie noch nicht zugeschlagen? Nun, sie haben alles getroffen – sie haben Krankenhäuser getroffen, sie haben den Energiesektor getroffen, sie haben Bahnhöfe erreicht … Überall haben sie alles Mögliche versucht.“ (flon)