Kirill Serebrennikovs „Der Schneesturm“ bei Salzburger Festspielen: August Diehl glänzt in Adaption von Vladimir Sorokins Roman

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Eine Wucht: August Diehl als Doktor Garin in Kirill Serebrennikovs Inszenierung von „Der Schneesturm“ nach Vladimir Sorokin bei den Salzburger Festspielen. © SANDRA THEN

Kirill Serebrennikov hat Vladimir Sorokins Roman „Der Schneesturm“ für die Bühne adaptiert. Nun feierte das Werk umjubelte Premiere bei den Salzburger Festspielen. August Diehl und Co. begeistern.

Kirill Serebrennikov, dieses Kind im Manne, wirbelt uns durch wie ein Schneesturm. Pardon, wie einE Schneesturm. Denn Blizzards sind im Russischen weiblich. Das ist viel mehr als Grammatik. Das hat Symbolkraft, ist Ausdruck von kulturellen Unterschieden – und gefundenes Fressen für den Theaterzauberer Serebrennikov. Und so sitzt man da, am Samstagabend auf der Pernerinsel in Hallein, bei der Premiere von „Der Schneesturm“ im Rahmen der Salzburger Festspiele – und denkt sich: Niemand anderes als er hätte den Roman von Vladimir Sorokin auf die Bühne bringen können.

Beide Männer sind Dissidenten Wladimir Putins; beide gingen kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 ins Exil; beide nach Berlin. Und: Beide erlauben sich in einer Welt von wieder aufgerüsteten Grenzen grenzenlose Fantasie.

Schon lange wollte Kirill Serebrennikov, eine der wichtigsten Stimmen des russischen Gegenwartstheaters, ein Werk von Vladimir Sorokin, einem der bedeutendsten russischen Schriftsteller, adaptieren. Nun hat er es getan. Und es gelingt ihm, diese Schneekugel von Literatur mit all ihrer Verträumtheit, Verspieltheit, Sinnlichkeit, auch: Vertracktheit auf der Bühne tänzelnd zum Leben zu erwecken.

Berührt: Vladimir Sorokin (li.) und Kirill Serebrennikov beim Schlussapplaus.
Berührt: Vladimir Sorokin (li.) und Kirill Serebrennikov beim Schlussapplaus. © kjk

Serebrennikov hat den Roman gestrafft. Bei ihm geht es schnell auf die Reise. Der Herr Doktor Garin (August Diehl) hält sich nicht lange mit Diskussionen um mögliche Transportmittel auf. Er will zügig los. Auf in ein abgelegenes Dorf, in dem sich eine Seuche ausgebreitet hat, die Infizierte in Zombie-artige Wesen verwandelt. Garin will die Menschen gegen die Epidemie impfen. Doch der Schneesturm tobt. „Es schneit – und das im Hochsommer“, stellt Garin mit Blick ins Publikum trocken fest. Der erste Lacher. Immer wieder zieht Serebrennikov das Stück mit Anspielungen wie dieser hinein ins Hier und Jetzt.

Vor allem erkennt er, dass dieser Schneesturm einer der wichtigsten Protagonisten des Romans ist. Deshalb lässt er nicht nur ständig ordentlich Kunstschnee rieseln – die sieben Künstlerinnen und Künstler der von ihm gegründeten Theatercompany Kirill & Friends verwandeln sich selbst in personifizierte Flocken. Dieser Schneesturm beobachtet, amüsiert sich, gähnt, kommentiert; Geschlechterrollen heben sich auf, Männer tanzen in Tüllröcken, Frauen rotieren mit phallusartigen Laubbläsern. Alles tanzt, alles singt. Wiegenlieder, sakrale Gesänge, am Ende gar ein Hauch von Fred Astaire und Babylon Berlin. Das Zähneklappern vor Kälte? Steppt Belenedjwa Peter hinreißend wie Fred Astaire. Malika Maminova sorgt dazu für immerwährende Live-Musik; träumerisch, verspielt, angsteinflößend, schrill.

August Diehl und Filipp Avdeev sind ein starkes Duo

Doch wie die Geschichte selbst auf die Bühne wuchten – allein die 50 Pferde, die im Roman das Mobil des Kutschers (Filipp Avdeev) ziehen? Serebrennikov findet eine so einfache wie poetische Lösung: Er lässt Frol Podlesnyi mit einer Kamera auf der Bühne eine Schneelandschaft en miniature filmen. Sie steht auf einem langen Tapeziertisch im Vordergrund, zwei Püppchen sitzen hier auf einer Mini-Kutsche und kurven durch die unendliche weiße Weite. Durch die Livevideos auf einer Leinwand über dem Geschehen wirken sie lebensgroß. Diehl und Avdeev thronen derweil in der Bühnenmitte auf einer Eisenkonstruktion, darin aufgestellt 50 Plastikpferdchen. Doch das Podest ist rund. So heftig Garin auch auf die Pferdis eindrischt, so autoritär er mit seinem gestreckten Arm die Richtung schurgerade vorgibt – die beiden Männer drehen sich auf ihrer Reise doch nur im Kreis.

Personifizierte Schneeflocken: Das exzellente internationale Ensemble macht den Schneesturm selbst zum Protagonisten.
Personifizierte Schneeflocken: Das exzellente internationale Ensemble macht den Schneesturm selbst zum Protagonisten. © SANDRA THEN

Das exzellente internationale Ensemble spielt, tanzt, singt sich die Seele aus den Leibern. In der dystopischen Welt, in die wir hier schlittern, spricht man Deutsch, anders als im Roman. Wenn der Doktor überheblich-gönnerisch den Kutscher fragt, wo der denn diese Sprache so gut gelernt habe, kann man das auch als Anspielung auf das Leben im Exil in Berlin lesen. Filipp Avdeev hat sich den Text rein phonetisch draufgeschafft. Eine Glanzleistung. Doch immer, wenn dieser genügsame Kutscher ins Nachdenken verfällt, fällt er auch ins Russische. Das sein Mitreisender nicht versteht. Auf diese Weise verstärkt Serebrennikov noch das Sujet der Sprachlosigkeit, des Missverstehens. Jeder stirbt für sich allein? Die beiden Männer, mit großen Glashauben bedeckt wie Kosmonauten, sind nicht erst in der letzten Stunde isoliert. Die Hauben schützen sie vor dem Sturm, doch schirmen sie auch voneinander ab. Kameras fangen ihr ausdrucksstarke Mienenspiel ein.

Gemeinsam reisen sie durch Zukunft, Vergangenheit, Gegenwart. Durch die Steppe, Seelenlandschaften. Der stimmig ergänzte Text ist gespickt von Bezügen zu Bibel, Kommunistischem Manifest, Mythen. Der Doktor wird getestet in seiner Prinzipientreue. Von der Müllerin (wunderbar changierend zwischen sinnlich und herrisch: Varvara Shmykova), vom neuen „Superprodukt“ der Dopaminierer. Von Wodka, der Sehnsucht nach Ruhe, Wiege, Mutterleib. Doch: „Wer schläft, erfriert.“

Auch Vladimir Sorokin applaudiert

August Diehl verkörpert voller Wucht diesen dreistündigen, existenziellen Ritt. Sein Doktor treibt an, verzweifelt, hadert, beichtet, flucht, erlischt. Sein Seelentrip bei den Dopaminierern ist ganz großes Schauspiel. Der Wahn, die Todesangst, schließlich: der Eisbrocken von Erleichterung, der ihm von den Schultern fällt, als der Trip vorbei ist. „Gott sei gepriesen, was für ein Glück, dass wir alle am Leben sind.“ Das nötigt auch dem Autor Vladimir Sorokin, der im Publikum sitzt, beim Schlussapplaus ein „Bravo!“ in Diehls Richtung ab.

Man friert mit den Schauspielern. Man spürt die von der Kälte steif gewordenen Füße. Man lässt sich auf die Fragen, die fliegenden Gedanken ein. Bleibt rätselnd, inspiriert zurück. „Hast du es verstanden?“, haucht der Sturm gegen Ende dem Doktor zu. „Nein, ich verstehe gar nichts.“ Standing Ovations. Nächste Vorstellungen: 18., 20., 22., 23., 24., 26. August 2025; Restkarten unter 0043/ 66 28 04 55 00.

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