Die Grüne Direktkandidatin Andrea Wörle spricht über Autos, Wohnungsknappheit und Geld

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Vor dem Grünen Neujahrsempfang in Kempten hat Andrea Wörle in der Redaktion vorbeigeschaut. © Lüderitz

Vor der Bundestagswahl spricht der Kreisbote mit Direktkandidaten im Wahlkreis Oberallgäu/Kempten/Lindau. Andrea Wörle von den Grünen gab das erste Interview.

Mit Andrea Wörle schicken die Grünen im hiesigen Wahlkreis eine gebürtige Ostallgäuerin ins Rennen um die Sitze im Bundestag. Die 39-jährige Diplom-Sozialwissenschaftlerin ist auf einem Bauernhof aufgewachsen, hat als Finanzjournalistin, als Beraterin für den NRW-Umweltminister und als Koordinatorin für die grünen Europa-Abgeordneten gearbeitet. Letztes Jahr trat sie als bayerische Spitzenkandidatin bei der Europawahl an. Aktuell ist sie als Referentin für Haushaltspolitik im Bundestag tätig. Der Kreisbote hat Wörle zu ihren politischen Zielen befragt.

Frau Wörle, Sie sind auf einem Bauernhof aufgewachsen, mit welchen Tieren haben Sie denn in Ihrer aktuellen Tätigkeit zu tun?

Andrea Wörle: (lacht) Höchstens mit Hornochsen. Uns Grünen wirft man immer vor, wir wären ideologisch, dabei haben wir vieles mitgemacht, wofür wir von unseren eigenen Wählerinnen und Wählern eins auf den Deckel bekommen haben. Wir suchen nach Lösungen. Manche dagegen weichen keinen Schritt von ihrer Position ab.

Sie setzen sich für feministische Finanzpolitik ein. Was darf man sich darunter vorstellen?

Darunter verstehe ich eine gerechte Finanzpolitik, die allen Menschen dient. Bei den Subventionen gibt es unzählige Ansatzpunkte. Zum Beispiel finde ich das Dienstwagen-Privileg für schwere Dienstwagen falsch. Diese belohnen zu über 80 Prozent männliche Führungskräfte und viel weniger Frauen, die kleinere Geldboni dafür beziehen. Auch das Ehegattensplitting ist ein klassischer Fall, das bestimmte Rollenmuster, ein bestimmtes Familienmodell bevorzugt und vor allem Frauen ökonomisch schadet, was zahlreiche Studien belegen.
Wir Grüne fordern, dass bereits geschlossene Ehen das Ehegattensplitting behalten dürfen, aber bei neuen Ehen sollten Familien und Alleinerziehende besser unterstützt werden als kinderlose Ehepaare. Ich plädiere auch für gute Förderung der Kinderbetreuung, auf die Alleinerziehende viel stärker angewiesen sind.

Welche Projekte haben Sie sich für die Region vorgenommen?

Was niemand mehr wegreden kann, ist die Finanznot der Kommunen, selbst hier im relativ wohlhabenden Allgäu. Ich möchte Jugendclubs, Schwimmbäder, Sportplätze und Kultur besser finanzieren. Bei Bus und Bahn ist das Allgäu komplett abgehangen, bei der Elektrifizierung ist Bayern bundesweit Schlusslicht, ein Ergebnis falscher CSU-Verkehrspolitik.

Wir müssen die Straßen, die wir haben, gut erhalten, und viel mehr in einen gut ausgebauten ÖPNV investieren. Das nutzt älteren Leuten, armen Menschen oder Alleinerziehenden, die kein Auto haben oder nicht mehr selber fahren können. Für uns als Tourismusregion sind gute Bahnverbindungen super wichtig. Auch die Menschen mit 49-Euro-Ticket, von dem bereits viele profitieren, könnten mehr Nutzen daraus ziehen.

Im Wahlprogramm ist von einem „Deutschlandfonds“ die Rede.

In vielen Bereichen gibt es einen Investitionsstau in Milliardenhöhe. Bei Bildung, unserer Infrastruktur und fürs schnelle Internet auf dem Land wird zum Beispiel zu wenig Geld ausgegeben. Auch damit wir billigen Strom aus Sonne und Wind weiter ausbauen können und unsere Wirtschaft modernisieren, damit Industriejobs bei uns im Land bleiben, möchten wir den Deutschlandfonds auflegen für Bund, Länder und Kommunen.

Dieser ist schuldenfinanziert.

Nein, kreditfinanziert. So kreditfinanziert wie ein Häuslebau oder Investitionen von Unternehmen. Natürlich muss man mit dem Geld vernünftig umgehen, es soll in Investitionen und nicht in neue Sozialausgaben fließen. Und es braucht eine ökonomisch sinnvolle Grenze für Staatsausgaben.

... Kredite, die man irgendwann zurückzahlt.

Deutschland ist heute mit 63 Prozent seines BIPs verschuldet – sehr viel weniger als unsere Nachbarn oder die USA, die mit über 120 Prozent ihres BIPs verschuldet sind. Wichtig ist, dass die Staatsverschuldung tragfähig ist, dass der Staat seine Kredite bedienen kann. Für den Großteil der staatlichen Schulden funktioniert das so: Der Staat gibt Staatsanleihen aus mit einer bestimmten Laufzeit. Wenn diese abgelaufen sind, werden neue Anleihen ausgegeben, um die alten zurückzuzahlen. Neue Kredite lösen die alten ab.

Staatsanleihen werden gerne von Banken und Versicherungen gekauft, denn diese sind sicher. Der deutsche Staat mit seiner stabilen Demokratie und unserer Bonität wird von den Ratingagenturen mit der Bestnote ausgezeichnet. Deshalb sind deutsche Anleihen auch niedrig verzinst. Auch mit dem Deutschlandsfonds wäre unsere Staatsverschuldung tragfähig. Da staatliche Investitionen unser Wirtschaftswachstum ankurbeln und vor allem auch private Investitionen anreizen, erwarten Ökonomen, dass dadurch die Steuereinnahmen sprudeln.

Der Deutschlandfonds könnte sich also selbst abbezahlen. Die CDU/CSU verspricht hier viele Steuergeschenke und hofft auf Wirtschaftswachstum. Wie sie die dafür nötigen Investitionen finanzieren möchte, erklärt sie nicht. In ihrem Wahlprogramm klafft ein Finanzloch von 100 Milliarden Euro.

Und die niedrigen Zinsen werden in der nächsten Zeit so bleiben?

Wir sind die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Die EU ist der größte Binnenmarkt der Welt. Wir haben eine sehr gute Wirtschaft. Natürlich haben wir ein paar Probleme, die will ich nicht wegreden: Wir müssen die Energiekosten billiger machen, Bürokratie weiter abbauen, mehr investieren.

Wir haben Fachkräftemangel. Dagegen hilft mehr Weiterbildung, Frauen brauchen bessere Möglichkeiten, wieder schnell in den Beruf zurückzukehren, wenn sie ein Kind bekommen haben. Geflüchtete müssen schneller in Arbeit gebracht werden. Der rechtspopulistische Ton in der politischen Debatte und Zuspruch für die AfD bescheren der Bundesrepublik bei den internationalen Fachkräften nicht gerade das Image eines Wohlfühlortes.

Für welche Einwanderungspolitik stehen Sie?

Wir haben als demokratischer Staat, der in der Geschichte große Fehler gemacht hat, die Verantwortung, dass Menschen, die vor Krieg und Terror fliehen, Asyl beantragen können. Geflüchtete müssen registriert werden, dann sollte rasch entschieden werden, ob sie bleiben können oder gehen müssen. Wir haben auch schon immer dafür plädiert, dass die Leute ihren Lebensunterhalt schnell selbst bestreiten.

Grundsätzlich ist es so, dass wir das Thema Migration europäisch lösen und die Menschen innerhalb der EU verteilt werden müssen. Was gescheitert ist, ist die konservative Migrationspolitik. Der bayerische Innenminister ist von der CSU. Ich habe auch noch nicht mitbekommen, dass Manfred Weber (CSU, Fraktions- und Parteichef der EVP) jemals bei seinen konservativen Parteichefs in Dänemark, den Niederlanden, Spanien, Österreich oder Polen für die Aufnahme von Flüchtlingen geworben hätte. Nur ein ganz kleiner Teil der weltweiten Geflüchteten kommt in der Europäischen Union an. Dann müssen wir sie auch menschenwürdig unterbringen und behandeln.

Auch vor dem Hintergrund des aktuellen Attentats?

Was in Aschaffenburg passiert ist, ist grauenvoll. Das Motiv des Täters ist noch unklar. Was wir wissen ist, dass er ein zweijähriges Kind mit marokkanischen Wurzeln getötet hat und ein syrisches Kind verletzt hat. Wir wissen auch, dass der Täter Afghane ist, psychisch auffällig und gewaltbereit war. Außerdem wollte er seit Dezember ausreisen.

Ich will, dass mich die Polizei schützt und dass das Justizsystem dafür sorgt, dass eine Person, die mehrfach aufgefallen war, nicht frei herumläuft, egal wo sie herkommt. Was hat der CSU-Innenminister, was haben die bayerischen Behörden getan? Warum war dieser Mensch auf der Straße anzutreffen?

In manchen Kommunen sind Geflüchtete in Zelten untergebracht, einige müssen dort schon seit Jahren ausharren, ohne Aussicht auf Besserung. Wie kann sich das ändern?

Die Fälle sind von Ort zu Ort unterschiedlich. Die Bundesebene hat in den letzten drei Jahren immer wieder Gelder dafür an die Länder gegeben, die sie weiterreichen sollten an Kommunen. Die CSU hat das Geld oft aufgehalten. Ich möchte die Gemeinden und Landkreise hier mehr unterstützen. Dazu kommt, dass wir insgesamt mehr für bezahlbaren Wohnraum unternehmen müssen.

Wie genau?

Mit einem neuen Bauprogramm für soziale und klimafreundliche Wohnungen. Es gibt zudem überall Leerstand, den man sich anschauen sollte, genauso wie Büroflächen, die durch die Arbeit im Homeoffice und die veränderte Arbeitswelt freigeworden sind. Derzeit darf man sie oft nicht umnutzen. In den Dorfkernen stehen viele alte Häuser leer.

Den Besitzerinnen und Besitzern fehlt oftmals das Geld für eine aufwendige Sanierung, zumal die Gebäude in vielen Fällen denkmalgeschützt sind. Dann verfallen die Häuser.

Für mich sind hier manche Regeln nicht nachvollziehbar. Ich bin dafür, die historisch hochwertige Architektur zu erhalten, wo es Sinn macht. Wenn der Denkmalschutz aber jede Renovierung zehnmal so teuer macht, sehe ich das kritisch.

Billig und gleichzeitig ökologisch bauen, wie kann das gehen? Die Preise und Standards sind hoch, die Vorgaben streng.

Für einen hohen Energiestandard und klimafreundliches Bauen gewährt der Staat Förderungen, genauso für den sozialen Wohnungsbau. In der letzten Legislatur hat die Regierung 18 Milliarden Euro für sozialen Wohnungsbau an die Länder gegeben. Im nächsten Jahr kommen noch einmal 3,2 Milliarden dazu.

Aber das alles reicht anscheinend nicht dafür aus, dass noch mehr billige Wohnungen entstehen.

Ich will kein Geld mit der Gießkanne verschenken, aber wenn man sieht, dass es ohne staatliche Zuschüsse nicht funktioniert, dann halte ich Förderungen für angebracht, auch für Dachgeschossausbauten oder Nachverdichtung. Zudem brauchen die Baubranche und die Industrie die Sicherheit, dass Regelungen für einen längeren Zeitraum gelten. Dann können sie planen und investieren.

Die Wirtschaft schwächelt, der Absatz der E-Autos ist eingebrochen, bei den Menschen sitzt das Geld weniger locker. In den einkommensschwachen Gegenden in Deutschland schnitt die AfD bei der Wahl 2021 überdurchschnittlich stark ab. Die Menschen haben Angst, mit grüner Politik wird ihnen noch mehr genommen. Wie wollen Sie den kleinen Mann, die kleine Frau davon überzeugen, Ihre Partei zu wählen?

Wenn man sich die Wahlprogramme anschaut, dann sieht man, dass eine vierköpfige Familie bei den Grünen im Jahr 1.000 Euro an Steuern und Abgaben sparen würde. Wenn Sie AfD wählen, zahlen Sie drauf. Nur die Millionäre und Superreichen würden profitieren. Das haben verschiedene Institute durchgerechnet. Bei FDP, CSU und AfD profitieren vor allem die, die ohnehin viel besitzen. Wir haben den Mindestlohn eingeführt und wollen ihn in diesem Jahr auf 15 Euro anheben. Die AfD, CSU und FDP wollten ihn nicht. Doch Arbeit muss sich lohnen.

... Ein von vielen Seiten gern genutzter Spruch, vielfach als Kritik am Bürgergeld.

Das Existenzminimum ist verfassungsrechtlich festgelegt. Die anderen Parteien können nicht erklären, wie sie hier große Summen sparen wollen. Was bringt es, denen, die schon wenig haben, alles zu nehmen? Den Arbeitenden nutzt eine gute Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik: dass sie gute Löhnen bekommen, dass die Arbeitgebenden sich an das Tarifrecht halten und wenn wir als Staat in Zukunftsbranchen investieren.

Die hiesige Autoindustrie hat den Trend der Elektro-Autos leider ein wenig verschlafen, während international alle wissen, dass E-Autos die Zukunft sind. In China werden großteils nur noch E-Autos zugelassen. VW verkauft aber vor allem an China und muss hier aufholen. Das wollen wir fördern.

Viele fürchten sich davor, dass das Autofahren mit dem steigenden CO2-Preis ab 2027 und dem Verbrenner-Aus nicht mehr bezahlbar ist.

Das Verbrenner-Aus für Neuzulassungen gilt erst in zehn Jahren. Audi zum Beispiel möchte sich schon vorher komplett vom fossilen Verbrenner verabschieden. Die Preise für E-Autos sind noch zu hoch. Ich würde mir bei den deutschen Autobauern etwas mehr Engagement wünschen im Bereich bezahlbare E-Kleinwagen. Die chinesischen E-Autobauer wie BYD werden natürlich extrem staatlich subventioniert. Ich wäre bereit, noch einmal eine Förderprämie für Elektroautos aufzulegen. Mir ist aber wichtig, keine Luxuskarossen zu subventionieren, sondern die einfachen Kleinwagen bis zur Golfgröße.

Frau Wörle, vielen Dank für das Gespräch!

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