Experte analysiert - „Dieser Typ will keinen Frieden“: Was am Trump-Narrativ über Selenskyj dran ist
Nach dem Eklat im Weißen Haus zwischen US-Präsident Donald Trump und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hat sich bei den Amerikanern ein neues Narrativ besonders stark verfestigt: Selenskyj wolle keinen Frieden, heißt es immer wieder. Ein schwerer Vorwurf.
Trump, sein Vize-Präsident J.D. Vance und ihre Gefolgsleute glauben offenbar nicht daran, dass Selenskyj nach einem Ende des Konflikts strebt. Seit geraumer Zeit stärkt die US-Regierung diese Erzählung.
Trump über Selenskyj: „Dieser Typ will keinen Frieden“ – das neue Ukraine-Narrativ der USA
Trump selbst erhob während des Oval-Office-Streits den Vorwurf gegenüber Selenskyj, er würde den Frieden ablehnen. Wenig später schob Trump auf seiner Social-Media-Plattform Truth Social nach: „Dieser Typ will keinen Frieden, solange er die Rückendeckung Amerikas hat.“
Am Samstag folgte die nächste Attacke. Trump betonte erneut seine „gute Beziehung“ zu Putin und behauptete, der russische Präsident wolle „den Krieg beenden“. Die Gespräche über ein Ende des Krieges seien einfacher mit Moskau als mit Kiew. „Ich finde es ehrlich gesagt schwieriger, mit der Ukraine zu verhandeln, und sie haben nicht die besten Karten“, sagte er am Freitag. „Es ist vielleicht einfacher, mit Russland zu verhandeln.“
Immer wieder wiederholt die Trump-Regierung nun dieses neue Narrativ, Selenskyj und sein Land würden sich gegen Frieden stellen – ganz anders als Putin, wie Trump glaubt.
Was spricht dafür, dass Trump recht hat – und was dagegen?
Der erste Punkt, der aus Sicht von Osteuropa-Experte Alexander Libman gegen Trumps Vorwurf an Selenskyj spricht, ist zunächst, dass der ukrainische Präsident immer wieder betont, dass er zum Frieden bereit sei. Wichtig seien ihm dabei aber die Bedingungen. Selenskyj stelle also die Frage, wann genau der richtige Zeitpunkt für Frieden sei.
Laut Libman gebe es grundsätzlich zwei Gründe, warum man Frieden zum aktuellen Zeitpunkt ablehnend gegenüberstehen kann:
- „Man kann schlichtweg glauben, dass der weitere Krieg eine Verbesserung der Position einer Seite in der Zukunft bringt – eine Art ´give the war a chance´-Argument.”
- „Auch wenn man nicht davon ausgeht, dass die Lage viel besser wird, kann man daran zweifeln, dass die Versprechen, auf die der Gegner jetzt eingehen wird, glaubwürdig sein werden. Das ist genau das Problem der Sicherheitsgarantien.“
Punkt zwei sei ein zentraler Grund, warum viele Kriege so lange dauern – „weil die Seiten davon ausgehen, dass der Gegner die Atempause ausnutzen wird, um sich Vorteile zu verschaffen, und sich nicht auf die Versprechen des Gegners einlassen kann“, sagt der Experte gegenüber FOCUS online.
Selenskyj hat seine Rhetorik über die Kriegsjahre hinweg aber angepasst. „2023 war sie noch relativ stark durch die erste Gruppe von Argumenten geprägt – durch den Krieg (mit ausreichender westlicher Unterstützung) werde die Ukraine sich Vorteile verschaffen, zum Beispiel mehr Territorien befreien“, sagt Libman.
Heute fokussiere sich Selenskyj jedoch primär auf den zweiten Punkt, „nämlich, dass er Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Putin hat.“
Selenskyjs Friedensvorstellung prallt auf Trumps Sichtweise
Trump und seine Berater sehen die Situation indes ganz anders. Libman erklärt: „Für sie ist die Lage der Ukraine nicht durch den Krieg zu verbessern – und daher führt der Krieg lediglich zu weiteren Opfern und Zerstörung und schafft noch Potenzial der globalen Eskalation.“
Hinzu komme, dass die US-Regierung glaubt, dass die Kosten einer Fortsetzung des Krieges so hoch sein können, dass es besser ist, das Risiko einzugehen und jetzt Frieden zu schließen, als auf Sicherheitsgarantien zu bestehen, die im Westen ohnehin niemand zu geben bereit ist. „Auch wenn es kein Ergebnis ist, dass die Ukraine sich wünscht, alles andere ist schlimmer (nicht nur für die Ukraine, sondern für die ganze Welt, wenn am Ende doch eine Dritter-Weltkrieg-Situation entsteht), argumentiert die Trump-Regierung.“
Libman meint: „Aus dieser Sicht, für die es durchaus gute Gründe gibt, wenn man auf den Verlauf des Krieges in den letzten anderthalb Jahren schaut, ist es tatsächlich so, dass Selenskyj den Krieg verlängert – ohne Rücksicht darauf, was die Ukraine realistischerweise noch erreichen kann und welche Kosten damit verbunden sein werden.“ Und hier liege auch der fundamentale Gegensatz, der schwer zu lösen sei.
Der nämlich wäre, rein normativ betrachtet: „Für Selenskyj scheint es wichtig zu sein, dass Putin für seinen ungerechten Krieg, grundlosen Angriff und Kriegsverbrechen der russischen Armee bestraft wird – das ist die Frage der Gerechtigkeit“, sagt der Experte.
Für Trump sei diese Frage weniger wichtig als die Frage des menschlichen Leides – wie viele Menschen im Zuge des Krieges sterben, was zerstört wird, und wie man das so schnell wie möglich beendet. „Das sind zwei normative Vorstellungen, die auch nicht unbedingt im Einklang stehen.“
Das Argument mit den Wahlen: Warum sie zu Kriegszeiten gefährlich sind
Seit Wochen probieren Trump und seine US-Regierung, die Stimmung gegen den Selenskyj zu befeuern. Sie behaupten, nur vier Prozent der Ukrainer seien für ihn. Bei einer Wahl habe er keine Chance, so Trump. Es wird unterstellt, Selenskyj klammere sich an die Macht. Denn käme es zu Wahlen, würde er abgewählt, so das Narrativ.
Gleich mehrere Argumente würden jedoch zunächst einmal gegen Wahlen unter Kriegsbedingungen sprechen. Libman erklärt:
- „Das betrifft Sicherheitsüberlegungen und auch die Logistik: Wie stellt man zum Beispiel sicher, dass auch Geflüchtete abstimmen können?“
- „Wahlen führen immer zum Aufflammen des politischen Wettbewerbs. Man kann argumentieren, dass unter Bedingungen des Krieges ein gesellschaftlicher Konsens auf alle Kosten zu bewahren ist.“
- „Russland könnte versuchen, die Wahlen zu benutzen, um eigene Proxies in der ukrainischen Politik durchzusetzen.“
Demgegenüber stehen indes zwei andere Argumente:
- „Der Tatbestand, dass Selenskyj nicht gewählt wurde, wird von Putins Propaganda benutzt – auch in den Beziehungen zu dem globalen Süden, wo die Unterstützung der Ukraine sowieso eher schwach ist.“
- „Wahlen hätten es auch möglich gemacht, dass Politiker mit anderen Sichten auf den Krieg und seine Fortsetzung eine größere Rolle in der Diskussion bekommen. Dafür braucht man ja auch Wahlen in der Demokratie – um gesellschaftliche Positionen zu vergleichen und darüber abzustimmen.“
Könnte Selenskyj von einem andauernden Krieg profitieren?
Bleibt die durch das Narrativ der US-Regierung unterstellte Frage: Verlängert Selenskyj künstlich den Krieg, auch, weil die ukrainische Verfassung besagt, dass in Kriegszeiten keine Wahlen abgehalten werden dürfen?
Dagegen sprechen zunächst klar die Fakten. Laut dem „Kyiv International Institute of Sociology“ liegt Selenskyjs Beliebtheit im Land derzeit bei 67 Prozent, nicht bei vier, wie Trump behauptet. Dies ist der höchste Wert seit Dezember 2023 und entspricht einem Anstieg von zehn Prozentpunkten innerhalb kürzester Zeit. Der öffentliche Streit mit Trump eint das Land offenbar hinter dem Präsidenten.
Es gebe jedoch zwei Argumente, dass Selenskyj als Politiker unter dem „sofortigen Friedensschluss“ eher verlieren würde, analysiert Libman:
- „Ein solcher Frieden wird sehr wahrscheinlich von der ukrainischen Bevölkerung nicht als ein entscheidender Sieg wahrgenommen – eher als eine Niederlage. Denn viele Ziele, die Selenskyj den Menschen versprochen hat, wurden nicht erreicht. Das bedeutet, dass er bei eventuellen Wahlen wahrscheinlich eher schlechte Karten hätte.“
- „Der Krieg führt zu einer für die Ukraine präzedenzlosen Konzentration der Macht in den Händen der Exekutive. Es geht auch um die Kontrolle über die Medien. Ein Ende des Krieges wird natürlich auch das Ende dieser Machtkonzentration bedeuten.“
Libman betont: „Auch wenn diese Argumente erwähnt werden müssen, weiß man natürlich nicht, ob sie eine Rolle spielen.“ Selenskyj könne aus einem Kalkül, oder auch aus reiner psychologischer Überzeugung, davon ausgehen, dass die Ukraine noch weiterkämpfen muss – und sich gleichzeitig keine Gedanken um seine Macht machen.
Auch ein Kriegsende könnte für Selenskyj Vorteile haben
Kommt es zum Frieden, könnte Selenskyj als Politiker aber auch profitieren – sofern dieser in der Ukraine als Sieg wahrgenommen würde, betont Libman. „Aber so ein Frieden ist jetzt unwahrscheinlich.“
Ebenso ein Faktor: Menschlichkeit. „Das Ende des Krieges bedeutet das Ende des enormen menschlichen Leides in der Ukraine, und es kann für Selenskyj durchaus wichtiger sein als seine Karriere“, sagt Libman.
Über die genauen Gedankenwege einzelner Personen könne man jedoch am Ende nur spekulieren. „Daher müssen die aufgezeigten Argumente als mögliche Erklärungen gesehen werden, was genau im Kopf einer Person abläuft, weiß man nicht“, sagt der Politikwissenschaftler.