FOCUS online: Frau Steinhaus, Sie unterstützen mit Ihrem Verein "Sanktionsfrei" Bürgergeld-Empfänger mit Spenden, können monatlich bis zu 30.000 Euro verteilen. Sie vermitteln Betroffenen Anwälte. Die Bundesregierung will das Bürgergeld reformieren. Die Komplettstreichung der Leistung ist nun möglich. Sogar die Kosten der Unterkunft können gestrichen werden. Wie finden Sie die Reformpläne?
Helena Steinhaus: Das ist kalkulierter Verfassungsbruch. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass alle Sanktionen über 30 Prozent verfassungswidrig sind, nur in absoluten Ausnahmen kann alles gestrichen werden, das können die Jobcenter jetzt schon: Wer zweimal eine zumutbare Arbeit ablehnt, kann komplett sanktioniert werden. Mit der Reform wäre die Komplettstreichung möglich, wenn einmal eine zumutbare Arbeit abgelehnt wird. Wir haben in Deutschland das Recht auf freie Berufswahl. Das steht so im Grundgesetz.
Sie werfen also der Bundesregierung bewussten Verfassungsbruch vor?
Steinhaus: Die wissen schon, dass ihre Pläne verfassungswidrig sind. Sie wissen aber auch, dass das Bundesverfassungsgericht Jahre brauchen wird, um eine Reform zu prüfen. So lange wird das neue Gesetz in Kraft sein. Dabei übertrumpft diese Reform Hartz IV in seiner Grausamkeit.
Bekommen Sie denn jetzt mehr Anfragen von Bürgergeld-Empfängern, seitdem die Reformpläne bekannt sind?
Steinhaus: Ja, das kann man schon sagen. Die Leute sind verunsichert, machen sich Sorgen. Aber die neue Grundsicherung, wie das Bürgergeld künftig heißen wird, ist noch nicht in Kraft gesetzt. Da wird noch einiges auf uns zukommen.
Wollen Sie mit Ihrem Verein gegen die Bürgergeld-Reform klagen?
Steinhaus: Wenn sie umgesetzt wird, wäre eine strategische Prozessführung sinnvoll, ja. Aber dafür brauchen wir Unterstützung.
Manch einer wird sagen, dass Sie Faulen auch noch helfen. Was sagen Sie denn dazu?
Steinhaus: Derjenige soll sich angucken, wer die 5,5 Millionen Bürgergeld-Empfänger eigentlich sind. Das sind chronisch Kranke, Alleinerziehende, fast eine Million sind Aufstocker und 1,5 Millionen sind Kinder und Jugendliche. Es heißt oft, vier Millionen sind erwerbsfähig. Aber darunter fallen auch die Jugendlichen und jene, die aus vielen Gründen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen.
Wollen Sie 15-Jährige bei Amazon arbeiten lassen? Wenn Sie genau hinschauen, stehen nur 30 Prozent der Betroffenen realistisch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Die meisten davon auch nur teilweise. Nur ein Bruchteil davon theoretisch in Vollzeit.
Wer krank ist, kann in Deutschland eigentlich Erwerbsminderungsrente beantragen.
Steinhaus: Viele stehen ja genau an der Schwelle. Einige wollen nicht aus der Arbeitslosenhilfe raus, weil dann für die Zukunft der Weg in Arbeit immer versperrt ist und noch dazu die Leistung noch geringer ausfallen würde als das Bürgergeld. Die hätten dann noch weniger Geld. Chronisch kranke Menschen sind krank und auch nicht faul. Die haben mit Therapien und Arztbesuchen genug zu tun. Laut unserer Studie aus diesem Sommer geben über 60 Prozent der Leistungsbeziehenden an, dass sie gesünder werden müssten, damit sie arbeiten können.
Kennen Sie denn auch wirklich faule Menschen, die das System ausnutzen?
Steinhaus: Das sind absolute Ausnahmen und nicht die Mehrheit, das sagen übrigens auch Jobcenter-Mitarbeiter. Was nicht die Ausnahme ist, sind zum Beispiel Menschen um die 50, die sich bewerben und die keiner haben will. Es gibt echte Probleme, über die wir sprechen müssen, anstatt Vorurteile zu dreschen.
Es ging Schwarz-Rot bei der Reform auch darum, Sozialleistungsbetrug zu verhindern. Also, dass Banden Menschen nach Deutschland schleusen, sie gruppenweise in Wohnungen unterbringen und dann die Leistungen für jeden einzelnen abkassieren.
Steinhaus: 421 bekannte Fälle dieser Art gab es bundesweit im Jahr 2024. Im selben Jahr sind Deutschland 200 Milliarden Euro wegen Steuerbetrug abhandengekommen. An diesem strukturellen Problem sollten wir arbeiten.
Das Thema Bürgergeld triggert nun mal viele Menschen, die mit ihrem Job wenig Geld verdienen.
Steinhaus: Es wird absichtlich so heftig darüber gesprochen. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann sagte, er werde 100.000 Empfängern die Leistungen streichen. Das Versprechen ist populistisch und beruht auf einer Lüge. Bürgergeld-Empfängern wird gerne die Schuld gegeben. Die Medien tragen auch ihren Teil dazu bei.
Warum helfen Sie Bürgergeld-Empfängern? Sie könnten doch auch etwas ganz anderes machen?
Steinhaus: Sanktionen stürzen Familien in eine unwürdige Lebenssituation. Die Reform wird
krasse Armut per Gesetz sein. Die Menschen sind in einer schlechten Verhandlungsposition, weil sie arm sind. Ich gebe Bürgergeld-Empfängern eine Lobby, die sie sonst nicht haben. Menschen, die arm sind, haben dieselben Rechte wie Menschen, die reich sind.