USA-Experte Jäger warnt - Alles wieder gut? „Das schlimmste Trump-Szenario ist lange noch nicht vom Tisch“

FOCUS online: Herr Jäger, nach dem Eklat im Oval Office und dem Stopp der Waffenlieferungen befürchteten viele eine weitere Eskalation gegenüber der Ukraine durch die gestrige Kongress-Rede von Donald Trump. Diese blieb aber aus. Liegt das daran, dass Selenskyj eingeknickt ist und Trump es geschafft hat, ihn in die Ecke zu manövrieren?

Thomas Jäger: Der offizielle Grund ist, dass Präsident Selenskyj sich bereit erklärt hat, das Abkommen über die Bodenschätze zu unterschreiben, was er nie abgelehnt hatte. Deswegen war er nach Washington geflogen und hat sich auch zu Friedensverhandlungen bereit erklärt.

Auch wenn Trump in seiner Rede sagte, er habe seriöse Signale aus Russland, dass man zu Verhandlungen bereit sei, bleibt unklar, was das jetzt genau bedeutet. Was wir wissen, ist, dass die amerikanische Seite schon vor jeder Verhandlung enorme Zugeständnisse gemacht hat. 

Das umfasst Territorialgewinne für Russland, keinen Weg der Ukraine in die Nato und keine Sicherheitsgarantien der USA für die Ukraine. Wenn man die Waffen- und Munitionslieferungen hinzunimmt, wurde die ukrainische Armee zusätzlich noch geschwächt. Was daraus werden kann, ist auch nach der Rede völlig offen.

Jäger über Trump: Nato-Austritt "noch lange nicht vom Tisch" 

Viele hatten den großen Knall in Form eines Nato-Austritts befürchtet. Aber auch das bliebt aus. Ist dieses Szenario jetzt vom Tisch oder droht das noch?

Jäger: Das schlimmste Trump-Szenario, der Nato-Austritt, ist lange noch nicht vom Tisch. Die Erwartung bleibt bestehen. Das Verhalten der amerikanischen Regierung in letzter Zeit, insbesondere die Zurückhaltung von Waffen und Munition für die Ukraine, hat bei allen Verbündeten, nicht nur in der Nato, sondern auch im pazifischen Raum, alle Alarmglocken ausgelöst. 

Ist das Vertrauen in die USA nach nur 45 Tagen Trumps im Amt schon vollständig weg?

Jäger: Das Vertrauen in die USA ist fundamental beschädigt. Ob Trump den formalen Austritt aus der Nato erklärt, ist jedoch eine ganz andere Sache. Juristen debattieren darüber, ob er das überhaupt darf, ob er den Senat dafür braucht, und wenn ja, würde er ihn wahrscheinlich nicht durchbekommen. Doch damit ist dennoch jederzeit zu rechnen.

Trump hat gegenüber Selenskyj verbal stark abgerüstet. Kommt jetzt der Kurswechsel nach dem Kurswechsel?

Jäger: Trumps Rede war relativ defensiv, da er die meiste Zeit darauf verwandt hat, die innenpolitischen Maßnahmen zu erklären, wie toll sie seien. Der Hintergrund ist schlicht: Die Amerikaner finden all das, was Trump derzeit macht, überhaupt nicht toll. Die Zahl derer, die die USA momentan in eine falsche Richtung wirtschaftlich und politisch entwickelt sehen, hat erheblich zugenommen. Über die Hälfte der Amerikaner sieht die USA nicht auf einem guten Weg. Das liegt auch daran, dass Hunderttausende entlassen wurden, was auch Trump-Wähler traf, die darüber frustriert sind. 

Zudem startet Trump einen Zollkrieg, und die Inflation sinkt nicht. Seine Wahlkampfversprechen treten in den Hintergrund, und er findet international kaum noch seriöse Unterstützung.

Waffenlieferungen an die Ukraine: "Es herrscht viel Unklarheit"

Sind also Waffenlieferungen an die Ukraine aus den USA jetzt wieder möglich? Könnte Trump den Stopp aufheben?

Jäger: Das weiß niemand. Donald Trump verkündet oft etwas, und dann wird erst mal geschaut, was das bedeutet. Es bleiben viele Fragen offen: Heißt das, dass die Produktion eingestellt wird? Dass bereits ausgelieferte Waren nicht weiter verschickt werden? Wem gehören die schon ausgelieferten Waren? Was passiert mit all den Waffen, die bereits auf Schiffen sind und die die Ukraine bezahlt hat? 

Auch die Einstellung der Intelligence-Kooperation zwischen den USA und der Ukraine ist unklar. Es gibt viele Dinge, die öffentlich nicht bekannt sind, und wir müssen einfach abwarten, bis wir die entsprechenden Signale bekommen, was von dieser Ankündigung tatsächlich umgesetzt wird. In Sachen Waffenlieferung herrscht also noch viel Unklarheit.

Politik-Experte Thomas Jäger
Politik-Experte Thomas Jäger privat

Über den Experten

Prof. Dr. Thomas Jäger ist seit 1999 Inhaber des Lehrstuhls für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in internationalen Beziehungen sowie amerikanischer und deutscher Außenpolitik.

Rohstoff-Deal zwischen USA und Ukraine: ein Knebel-Deal? 

Nun hat sich Selenskyj abermals bereit erklärt, den Rohstoff-Deal mit den USA zu unterzeichnen. Welchen Zweck hätte das überhaupt für die Ukraine?

Jäger: Für die Ukraine geht es darum, die amerikanische Unterstützung aufrechtzuerhalten. Momentan kommen etwa 30 Prozent der Munition und Waffen aus den USA, was ein erheblicher Anteil ist. Es gibt viele amerikanische Waffen im Einsatz, die gewartet werden müssen, und dafür benötigt man Ersatzteile. 

Besonders in der Luftabwehr, wie bei Patriot-Raketen, haben die USA eine kaum zu ersetzende Rolle, ebenso bei weitreichenden Raketen wie der ATACMS. Auch die Kommunikation und Aufklärung sind entscheidend, und die USA sind hierbei sehr wichtig. 

Wenn diese Unterstützung eingestellt würde, würde das die ukrainischen Streitkräfte erheblich treffen, da sie dann nicht mehr in gleichem Maß Aufklärung und Zielerfassung durchführen könnten.

Das heißt, es handelt sich um eine Art Knebel-Deal? Nach dem Motto: Wenn ihr nicht unterschreibt, gibt es eben keine Waffen von uns ...

Jäger: So ist es. Die Ukraine hatte das Angebot gemacht, die Bodenschätze ins Spiel zu bringen, um Unterstützung zu erhalten. Selenskyj brachte dieses Angebot ein. Die USA haben daraus gemacht: „Wir nehmen die Bodenschätze, aber dafür gibt es dennoch keine Sicherheitsgarantie.“

Doch ohne die Sicherheitsgarantien wäre auch jede Verhandlungslösung eine Kapitulation der Ukraine. Denn außer den USA gibt es niemanden, der Russland davon abhalten kann, den Krieg wieder aufzunehmen. Die Ukraine wäre dann entsprechend geschwächt und nicht in der Lage, sich so effektiv zu verteidigen wie jetzt.

Sicherheitsgarantie durch Rohstoff-Deal? "Was Vance macht, ist Nebelkerzen werfen"

US-Vizepräsident J.D. Vance hat zuletzt aber recht vage angedeutet, dass dieser Rohstoff-Deal eine starke Sicherheitsgarantie sei, dass es kaum bessere Garantien als eine wirtschaftliche Zusammenarbeit gebe. Wie kann denn ein solcher Wirtschaftsdeal eine Sicherheitsgarantie ersetzen, wie man sie im eigentlichen Sinne versteht, in Form von militärischer Unterstützung, vielleicht sogar Präsenz?

Jäger: Das ist genau die richtige Frage! Und die Antwort ist: gar nicht. Was Vance macht, ist Nebelkerzen werfen. Das entbehrt jeder faktischen Grundlage. Man kann sich lebhaft ausmalen, dass die Ukraine jetzt mit den USA ein Abkommen über den Abbau von Bodenschätzen im Osten der Ukraine abschließt. Dann wird es möglicherweise Verhandlungen geben, und aus Moskau könnte das Angebot kommen: „Wie wäre es, wenn wir euch dasselbe Abkommen anbieten?“ Das Abkommen wäre schlicht und ergreifend keine Sicherheitsgarantie.

Was soll dann der tiefere Plan dahinter sein?

Jäger: Der tiefere Plan ist, dass die Ukraine für Trump und Vance keine wirkliche Bedeutung hat. Sie behaupten, über ein Ende des russischen Krieges in der Ukraine zu verhandeln, aber öffentlich bekannt sind solche Gespräche nicht. 

In Wirklichkeit geht es ihnen um die Neuordnung der amerikanisch-russischen Beziehungen. Trump möchte die Bindung zwischen Russland und China lösen und stattdessen engere Beziehungen zwischen Russland und den USA aufbauen, um Russland eines Tages als Verbündeten gegen China zu gewinnen.

USA und Russland versus China? "Plan ist völliger Unsinn und geopolitisch naiv"

Kann dieser Plan tatsächlich aufgehen? Die Ukrainer können bereits ein langes Lied davon singen, wie sehr man sich auf Verträge, Deals und Partnerschaften mit Russland verlassen kann. 

Jäger: Dieser Plan ist völliger Unsinn und geopolitisch naiv. Aber das muss den amerikanischen Präsidenten ja nicht davon abhalten, naiv zu sein. Putin versteht diese Absicht und stellt deshalb seine Forderungen bezüglich der Ukraine. So gesehen, lässt sich Trump von Putin an der Nase herumführen.

Also haben die Russen die besten Karten in der Hand, nicht die Amerikaner und schon gar nicht die Ukrainer oder die Europäer?

Jäger: Die Ukrainer stehen in einer schlechten Position, da Europa ihr letzter verlässlicher Partner ist, jedoch selbst unzureichend gerüstet und in der Frage zerstritten ist. Russland hat an sich keine guten Ausgangsbedingungen, da es den Krieg weder erfolgreich führen noch wirtschaftlich durchhalten kann. 

Doch momentan hat Russland gute Karten, weil sich das Blatt plötzlich gewendet hat und weil nun Putin jemanden im Weißen Haus sitzen hat, der seine Interessen unterstützt. Putin spielt das geopolitische Schach, indem er nicht nur die schwarzen Steine, sondern auch die weißen bewegt, wodurch das Spiel leichter zu gewinnen ist.

Friedensverhandlung wieder möglich? "Es gibt kein bekanntes Format"

In dem Brief von Selenskyj, den Trump in seiner Kongress-Rede zitierte, heißt es, dass die Ukraine bereit ist, so bald wie möglich an den Verhandlungstisch zu kommen, um einen dauerhaften Frieden näherzubringen. Kann es in der aktuellen Lage zu Friedensverhandlungen kommen – und wenn ja: Wie werden diese aussehen, nachdem Selenskyj eindeutig eine Versöhnungsgeste gegenüber Trump gezeigt hatte?

Jäger: Das weiß niemand genau. Die ursprüngliche Idee der USA war, Verhandlungen zwischen Russland und den USA zu führen. Die Vereinigten Staaten haben sich vehement geweigert, die Ukraine in die Gespräche in Riad einzubinden. Es gab keinen Versuch, die Ukraine einzubeziehen, noch nicht einmal sie im Vorfeld oder in einem anderen Raum sitzenzulassen, wie es üblich ist, wenn Parteien nicht direkt miteinander reden wollen.

Der Vorwurf, die Ukraine sei zu Verhandlungen nicht bereit, war von Anfang an infam. Trump schafft es jedoch, den Informationsraum in seine Richtung zu drehen und so zu tun, als sei das der Fall. Die Ukraine hat sich Gesprächen nie verweigert, betonte jedoch, zuvor mit den Unterstützern über Sicherheitsgarantien zu sprechen. Es ist sinnvoll, dass die Ukraine erst mit ihren Unterstützern spricht, bevor sie mit dem Kriegsgegner und Aggressor redet. Insofern ist völlig unklar, welche Verhandlungen gemeint sind, bei denen die Ukraine teilnehmen soll. Es gibt kein bekanntes Format, in dem Russland und die Ukraine verhandeln und die USA als Mediator auftreten. 

Wenn Trump also von Friedensverhandlungen spricht, meint er was genau?

Jäger: Das, was Trump meint, wenn er sagt, die Ukraine sei bereit zu Friedensverhandlungen, ist seine eigene Lesart. Er meint dann, die Ukraine sei bereit, zu akzeptieren, was die USA diktieren. Aber so funktioniert das nicht, wenn die Ukraine ein souveräner Staat bleiben soll. Und das ist das Ziel der ukrainischen Regierung.

Trump verliert Rückhalt: "Wie er wahrgenommen wird, ist ihm wichtiger als das, was in einem Abkommen steht"

Während der Trump-Rede hatte man den Eindruck, dass alles wieder gut ist oder gut werden kann zwischen Selenskyj und Trump, dass es wieder Annäherung gibt. Der Schein trügt jedoch offenbar.

Jäger: Die defensiven Aussagen zur Ukraine und Russland in Trumps Rede resultieren daraus, dass die amerikanische Regierung realisiert hat, dass außer Ungarn und Russland niemand ihre Position unterstützt. Russland hat bei den Amerikanern einen schlechten Ruf, Putin noch mehr. 

Ein Abkommen, das die Europäer und die Ukraine nicht unterstützen und nur von Russland gestützt wird, kann Trump der amerikanischen Öffentlichkeit nicht als Sieg verkaufen. Er würde als jemand dastehen, der von Putin über den Tisch gezogen wurde. Und wie er in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, ist ihm immens wichtig. Das ist ihm wichtiger als das, was in einem Abkommen steht.