Muss diese Erinnerungskultur noch sein? Zwei Historiker sprechen über Anfeindungen und den Blick zurück

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Andreas Wagner und Dr. Sybille Krafft wollen das Erinnern nicht vergessen. Sie halten das Gedenken auch heute noch wach. © Sabine Hermsdorf-Hiss

80 Jahre nach dem Krieg sprechen zwei Historiker. Dr. Sybille Krafft trägt das Bundesverdienstkreuz, Andreas Wagners Buch beleuchtet ein vergessenes Kapitel.

„Nestbeschmutzer“ wurde er genannt. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass die meisten Menschen es nicht mögen, wenn Historiker in der Familiengeschichte herumbohren. „Man macht sich nicht unbedingt Freunde“, sagt Dr. Sybille Krafft. Andreas Wagner weiß das gut. Abgehalten hat das die beiden nicht. Heute stehen – auch dank ihres Engagements – Mahnmale und ein Museum.

Rechte Parolen und Schmierereien tauchen wieder auf: Muss das Weltkriegs-Erinnern noch sein?

Andreas Wagner hat Erkenntnisse zum Todesmarsch gesammelt – die Erinnerungskultur in der Region mitgeprägt. Er hat eines der umfassendsten Bücher zu dem Schlussakkord des Nazi-Grauens geschrieben. Krafft hat die Bedeutung des Wolfratshauser Ortsteils Waldram für die NS-Zeit, für Holocaust-Überlende und Heimatvertriebene erforscht. In einer Zeit, in der immer wieder die Frage auftaucht, ob das mit dem Weltkriegs-Gedenken denn wirklich immer noch sein muss, sind Krafft und Wagner ungebrochen einer Meinung. Es muss sein. Gerade heute noch. An diesem Montag jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 80. Mal. Der 27. Januar ist internationaler Holocaust-Gedenktag.

Beide engagieren sich seit Jahrzehnten

Vom Waldramer Badehaus aus spazieren die promovierte Historikerin und der Ex-Bundestagsabgeordnete zum Todesmarsch-Mahnmal in Buchberg. Auf dem Weg von Kraffts Lebenswerk zu Wagners Mitverdienst erinnern sich die beiden ans Erinnern. Vor über 30 Jahren lernten sich die Historiker kennen. Krafft war junge Filmemacherin, Wagner ein junger Suchender. Der Geretsrieder wollte herausfinden, welche Bedeutung die Stadt beim Todesmarsch gespielt hatte. Es gab Hinweise – und dennoch weigerten sich einige Geretsrieder Entscheider beharrlich, auch nur einen kleinen Zusammenhang zwischen der jungen Stadt und dem Todesmarsch anzuerkennen. Heute weiß man: Geretsried war eine entscheidende Örtlichkeit. Hunderte KZ-Häftlinge fanden dort eine Zwischenstation. Das Lager Buchberg bedeutete für sie am 1. Mai 1945 das Ende der Nazi-Gräuel und den Beginn eines neuen Lebens. Heute kennt man den Standort des „Lager Buchberg“ als Böhmwiese – und die gehört zu Geretsried wie das Rathaus und die Isar.

Kein Forum für „Nestbeschmutzer“: Erinnerungskultur war lange umstritten

Beim Spaziergang erzählt Wagner erst, dass es eigentlich wenig Probleme bei seiner Recherche gegeben habe. Je länger das Gespräch dauert, umso mehr muss er aber doch einräumen: Es gab welche. Massive. Krafft wollte ihn seinerzeit zu seinen Forschungen interviewen. Das durfte sie nicht in einem städtischen Gebäude tun, weil die Stadt Geretsried diesem – Zitat – „Nestbeschmutzer kein Forum bieten“ wolle. Wagner nickt. Es habe immer „eine gewisse Distanz“ zu dem Thema gegeben, hat er einmal erzählt. Gemeint hat er, dass es große Widerstände gab, als der junge Wagner da in der Vergangenheit forschte.

Um das Heute zu verstehen, muss ich auch das Gestern kennen.

Er weiß aus seinem Elternhaus, dass sich viele Ältere mit dem Erinnern schwertaten. Wagners Vater kommt aus Pusztavam im heutigen Ungarn. Dass dort 1944 rund 200 Menschen erst ihr eigenes Grab schaufeln mussten und danach erschossen wurden, weiß Wagner. Von seiner Familie wurde es ihm aber nie erzählt. „Über die Zeit, den Krieg, da wurde immer ein Mantel des Schweigens gelegt“, erinnert er sich. Genau das habe ihn neugierig gemacht. Es seien belastende Erinnerungen gewesen, gibt er zu bedenken. Für einige bestimmt traumatisch. „Aber man kann das doch nicht verschweigen. Mir war es persönlich wichtig, vieles sichtbar zu machen.“ Er glaubt, dass Erinnern mehr ist, als der Blick zurück. „Um das Heute zu verstehen, muss ich auch das Gestern kennen“, sagt der Ex-Bundestagsabgeordnete.

Krafft hat eine andere Haltung zur Vergangenheit in ihrer Familie erlebt. Von ihrer Großmutter hörte sie als Kind keine Märchen oder frei erfundene Kindergeschichten. „Sie hat von früher erzählt“, und Krafft lauschte ihrer Oma aufmerksam. Sie entwickelte eine Leidenschaft, die sie bis heute antreibt.

Krafft: Erinnerungen sind „ein Schatz“ - Es leben nicht mehr viele Zeitzeugen

Aus den Erfahrungen der Vorgänger-Generationen kann man Schlüsse ziehen. Krafft, die Bundesverdienstkreuz-Trägerin, ist dieser Meinung. Die Generation der Täter und Opfer ist 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs quasi ausgestorben. Für die Ehrenamtlichen im Badehaus klingt die nüchterne Info wie ein Auftrag: „Wir sehen es als eine Verpflichtung, den Zeitzeugen zuzuhören, es festzuhalten und zu erinnern.“

Einmalige Interviews auf Video: So rettet das Team die Erinnerungen

Hunderte Stunden Videointerviews mit Holocaust-Überlebenden hat das ehrenamtliche Museums-Team über die vergangenen Jahre gesammelt. Krafft spricht immer wieder von einem „Schatz“, den der Verein gehoben habe. Im Badehaus-Fundus läuft es, wie es häufig läuft mit Schätzen: Zeit macht sie immer wertvoller. Auch wenn die Überlebenden der NS-Zeit irgendwann schon lange verstorben sind, kann man aus ihren Geschichten lernen. Diese Überzeugung treibt Badehaus-Vorsitzende Krafft und ihre Mitstreiter an. „In unserem Team weiß jeder, wie wichtig das Gedenken und das Erinnern ist.“

Es gibt Menschen, die sehen das anders. Als Krafft und ihre historisch interessierten Wegbegleiter das einstige Badehaus und heutige Museum retten wollten, merkte sie das deutlich. „Man macht sich nicht nur Freunde“, sagt sie heute. Die Bedeutung des Hauses wurde kleingeredet, die Notwendigkeit, daran zu erinnern, angezweifelt. Krafft würde es aber wieder so machen, notfalls anecken, um historische Schätze zu bewahren. „Wenn man etwas nicht pflegt, wächst Gras darüber.“ Und irgendwann würde man vergessen. Das wollen Wagner und Krafft verhindern.

Hakenkreuze und Parolen schockieren: In der Region gibt es immer wieder Taten

Im Moment sehen sie täglich Gründe dafür, den Schrecken der Nazi-Zeit in Erinnerung zu halten. Zum Beispiel, wenn sie an einer großen Plakatwand zur Bundestagswahl in Waldram vorbeispazieren. „Volksverräter“ hat jemand darauf geschrieben, und die Köpfe der Politiker mit Edding ausgestrichen. „Es wird wieder auf NS-Parolen zurückgegriffen“, sagt Krafft. Aktuelle Fälle gibt es nicht nur auf Wahlplakaten. Ein Café und ein Geschäft in Wolfratshausen wurden mit Hakenkreuzen beschmiert, dazu pinselten die Täter den Hitler-Gruß. Das Wohnhaus einer Vielfalts-und-Umweltschutz-Aktivistin in Geretsried wurde ebenfalls mit NS-Symbolik übersäht – dazu die Beleidigung „Scheiß Jude“.

Geschichtsvergessenheit alleine hält Krafft nicht für den Grund solcher Straftaten. „Die Schamgrenze ist gesunken“, sagt sie nachdenklich. Die Sprache, der Umgang sei in der jüngeren Vergangenheit verroht. Wagner pflichtet ihr bei. Immer wieder bekommt er Post von Rechtsextremen. Seit seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter findet er unregelmäßig rechtes Propagandamaterial in seinem Briefkasten, er erstattete Anzeige wegen Bedrohung. Einschüchtern lasse wollte er sich noch nie. Auch jetzt nicht.

Das Erinnern möchten Krafft und Wagner aufrechterhalten. Amn Holocaust-Gedenktag am Montag, dem 80. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung, haben sie keine Veranstaltungen geplant. Die Badehaus-Chefin möchte eine „Ritualisierung des Erinnerns“ vermeiden. In „lebendigen Veranstaltungen“ solle der Nazi-Opfer gedacht werden, nicht in immergleichem Rahmen.

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