„Geht es noch würdeloser?“ Deutschlands bekanntester Pflege-Kritiker startet bei Vortrag Selbstversuch

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Pflege-Kritiker Claus Fussek spricht auf Einladung der SPD-Arbeitsgemeinschaft 60plus in Wolfratshausen über Defizite in der Pflege und Menschenrechte.

Bad Tölz-Wolfratshausen – In der ganzen Bundesrepublik gibt es wohl keinen prominenteren Kritiker der Kranken- und insbesondere Altenpflege als Carl Fussek. Der Sozialarbeiter und gebürtige Lenggrieser folgte kürzlich einer Einladung der Arbeitsgemeinschaft (AG) 60plus der Kreis-SPD zum „Diskurs am Vormittag“. Mit der Frage „Jeder will gute Pflege. Warum haben wir sie nicht?“ begrüßte AG-Vorsitzende Gabriele Skiba die Gäste im Wolfratshauser Gasthaus Löwenbräu.

Vor Fusseks Tour durch Höhen und Tiefen der Pflege, Mitgefühl und Wut begann er seinen Vortrag mit einem Selbstversuch. „Für zwei Stunden geht bitte keiner mehr auf die Toilette“, bat er die rund 15 Gäste im Nebenraum der Wirtschaft am Untermarkt. „Wir trainieren für das Pflegeheim.“ Denn dort sei die Zeit häufig knapp bemessen, die ein Pfleger für einen Bewohner übrig hat. Und wenn das Ankleiden statt der laut Sozialgesetzbuch veranschlagten 10 Minuten 30 dauert, falle der Gang aufs WC weg, bis zwei Stunden später wieder eine Pflegekraft kommt. Den Senioren bleibe anstelle eines Malheurs dann die Wahl: „eine Windel oder Verzicht aufs Trinken“. Bei zweiterem sei die Chance jedoch recht hoch, dehydriert in der nächsten Notaufnahme zu landen. „Geht es noch würdeloser?“, fragte Fussek die Anwesenden – und erntete betretenes Schweigen.

Claus Fussek Sozialarbeiter und Pflegekritiker.�
Claus Fussek Sozialarbeiter und Pflegekritiker.� © Archiv

Gefängnisinsassen stehe eine Stunde Hofgang pro Tag zu. Ein Recht auf frische Luft sei sogar Bestandteil des Tierschutzgesetzes, erläuterte der gebürtige Lenggrieser weiter. „Und bei unseren Alten hört das auf?“, fragte er die Anwesenden. Schönes Wetter erleben Bewohner von Seniorenheimen meist nur durch die Fensterscheibe, „außer, wenn sich jemand aus der Verwandtschaft erbarmt“.

Wer dafür die Verantwortung trägt? Die Frage stellt sich Fussek „seit über 40 Jahren. Wer kann etwas gegen eine gute Pflegeversorgung haben? Eigentlich keiner.“ Früher oder später sei doch jeder Mensch auf Pflege angewiesen. Also machte sich Fussek per Ausschlussverfahren auf die Suche nach der Schuld.

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Am Geld könne es kaum liegen, sagte der 71-Jährige. „Folgen schlechter Pflege sind wesentlich teurer als gute Pflege.“ Will heißen: Ein bettlägeriger Heimbewohner erfährt unzureichende Pflege, beispielsweise durch zu wenig Bewegung. Ein Druckgeschwür, Dekubitus genannt, entstehe. „Dessen Behandlung ist um ein Vielfaches teurer, als im Vorhinein für eine angemessene Pflege respektive Zeitplan zu sorgen.“ Zustimmung erfuhr er von Günter Wagner, Chef der Geretsrieder Pflegezentrale Wagner und seit 30 Jahren in der Branche aktiv: „Es ist Wahnsinn.“

Fussek: Meiste Beschwerden über Pflege kamen vom Personal selbst

Ob die Pflegekräfte verantwortlich sind, verneinte Fussek ebenfalls. „Ich habe zwei Überzeugungen: Pflegerinnen und Pfleger sind am Wohlergehen der Menschen interessiert. Und die Ausbildung ist qualitativ gut.“ In seiner ganzen Zeit als Kritiker der Pflegesituation habe er über 50 000 Beschwerden gesammelt. „Zwei Drittel davon kamen vom Pflegepersonal selbst.“

Dann die Politik? Nicht mal Parteien mit einem Bein außerhalb der demokratischen Grundordnung trauen sich, „etwas gegen eine bessere Pflegesituation zu sagen“. Die Kranken- und Pflegekassen mit ihrem Zwang zum Wirtschaften? „Vorbeugen ist billiger als behandeln, also nein“, beantwortete Fussek seine eigene Frage. „Das gilt ebenso für die Träger der Pflegeheime.“

Ganze zweieinhalb Stunden später beendete der 71-Jährige seinen Exkurs und entließ die Gäste aus dem Selbstversuch. Der Gang auf die Toilette war zwar wieder erlaubt. Doch eine richtige Lösung schien nicht in Sicht. „Wenn wir das nicht in den Griff kriegen, müssen wir über aktive Sterbehilfe reden“, legte Fussek nach. „Starker Tobak“, merkte AG-Vorsitzende Skiba nach dem Ende des Vortrags an. „Das muss man erst einmal verdauen – aber auf jeden Fall etwas tun.“

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