„Geopolitischer Sieger des Jahres“: Kreml-Medium nutzt US-Kolumne für Putin-Propaganda
Eine Kolumne im Wall Street Journal kürt Putin sarkastisch zum „geopolitischen Sieger des Jahres“ und die staatliche Nachrichtenagentur Tass jubiliert.
Moskau – In einer kurzen Meldung hat die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass verkündet, dass ein renommiertes westliches Medium – das US-amerikanische Wallstreet Journal – Wladimir Putin zum „geopolitischen Sieger des Jahres“ gekürt hat. Dabei ist die Meldung vor allem ein Paradebeispiel dafür, wie Russlands Propagandamaschine arbeitet.
Denn der Text, auf den sich die Nachricht bezieht, ist keine Nachrichtenanalyse oder eine ernstgemeinte Aufzählung der „Gewinner des Jahres“ wie Tass suggeriert, sondern eine Glosse, die bereits in ihrem zweiten Absatz wörtlich ankündigt, dass es „der Job des Kolumnisten“ sei, zu provozieren. So kürt der Autor nicht nur Putin zum „geopolitischen Sieger“ des Jahres, sondern auch die US-Wirtschaft mit ihren explodierenden Verbraucherpreisen zur „Volkswirtschaft des Jahres“ und den US-Supreme Court als „Amerikanische Institution des Jahres“.

Lobendes Zitat über Putin: Staatliche Nachrichtenagentur vermeldet gute Nachricht
Die Nachrichtenagentur pickt sich zur Erläuterung von Putins mutmaßlicher Ehrung nur einen kurzen Ausschnitt des Texts heraus, der nur für Abonnenten des US-Mediums im Original lesbar ist. Der Autor begründe seine Entscheidung für Putin damit, dass „Kiews viel gepriesene Gegenoffensive festgefahren ist, Putins Wirtschaft den Sanktionen des Westens standgehalten hat, die Lösungen Europas verblassen, die Unterstützung der USA wegbricht“.
Im Original steht dieser Satz wirklich, bekommt im Kontext jedoch eine ganz andere Bedeutung, wenn der Kolumnist zu Beginn erklärt: „Es erfüllt mich nicht mit Freude, erklären zu müssen, dass Wladimir Putin der geopolitische Sieger des Jahres ist. Obwohl sein Krieg gegen die Ukraine weiterhin großen Schaden für Russland anrichtet, während unschuldige Ukrainer abgeschlachtet werden, wirkt seine Position unermesslich viel stärker als noch vor einem Jahr.“
Russische Nachrichtenagentur Tass greift US-Kolumne auf und verrät sich selbst
Tatsächlich sieht die Situation im Ukraine-Krieg vor dem Hintergrund abnehmender westlicher Unterstützung anders aus als noch im vergangenen Jahr als eine Gegenoffensive der Ukraine wenige Wochen zuvor zur Befreiung gleich zwei großer Städte im teils besetzten Osten des Landes geführt hatte. Dennoch haben die ukrainischen Streitkräfte dem vermeintlich stärkeren Angreifer Russland noch immer vieles entgegenzusetzen. Fachleute berichten außerdem über große Verluste bei Russlands Streitkräften.
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Aufmerksame Leser könnte bei der Lektüre der Tass-Nachricht neben dem Verweis auf Elon Musk als „Business-Sieger des Jahres“ („Seine Übernahme von Twitter/X mag ihn ein Vermögen kosten, aber seine Kerngeschäfte laufen weiterhin top“) auch die Quelle Wall Street Journal wundern. Denn eine prägende Nachricht des Jahres am Rand des Ukraine-Kriegs war die Festnahme des US-Journalisten Evan Gershkovich, dem in Russland Spionage vorgeworfen wird. Gershkovich ist Reporter des Wall Street Journal, was die potenzielle Bewunderung des Blattes gegenüber dem russischen Machthaber zusätzlich schmälern sollte.
Tass macht Propaganda aus US-Glosse: Prigoschin als „geopolitischer Verlierer“
Auch zur Festnahme des Kollegen äußert sich der Kolumnist in seinem Text mit unmissverständlichen Worten, die Tass hingegen nicht zitiert: Putin habe „einen völlig unschuldigen und ehrbaren Wall Street Journal-Reporter als Gefangenen genommen und wird für seine Piraterie ohne Frage mit einem weiteren Schurke-gegen-Geisel-Austausch belohnt werden. Er hat die grausamen Vorteile strategischer Geduld demonstriert, die eine autokratische Herrschaft ermöglicht“.
Zum „geopolitischen Verlierer“ kürt der Text im Übrigen nicht den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, dessen Land es schwerfallen könnte, sich mit abnehmenden westlichen Hilfen, weiter gegen seinen Angreifer zu verteidigen, sondern den 2023 bei einem Flugzeugabsturz getöteten Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin. Dieser hätte als „Putins Koch“ ein anderes Schicksal haben können, „aber nach dem Zusammenrühren einer glaubhaften Meuterei hat er das Rezept vermasselt und wurde zu Toast“. Auch von diesem Abschnitt ist in der Tass-Nachricht über die angebliche Auszeichnung des Kreml-Herrschers nicht zu lesen. (saka)