Macht Nordkorea den Ukraine-Konflikt zum „Weltkrieg“? Experten beschwichtigen

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Neue Waffenbrüderschaft: Wladimir Putins Invasionsarmee in der Ukraine bekommt jetzt frische Soldaten aus Nordkorea – hier paradierend zum 75. Jahrestag der Gründung der Koreanischen Volksarmee. Der Westen steht jetzt vor der Herausforderung, die entsprechende Antwort zu finden (Symbolfoto). © Korean Central News Agency / AFP

Verzweifeltes Aufbäumen oder abgefeimtes Taktieren mit einem europäischen Krieg? Wladimir Putin und Kim Jong-un führen die Welt gerade wieder vor.

Kursk – „Eine solche Eskalation sollte für den Westen inakzeptabel sein. Nur eine heftige Antwort könnte den Kreml beeindrucken“, schreibt Andreas Rüesch. Der Autor der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) geißelt die vermeintliche Entsendung von nordkoreanischen Soldaten in den Ukraine-Krieg durch Russland, und er rügt die Widersprüchlichkeit des vermuteten Hintergrundes: von Wladimir Putins verstärktem Aufgalopp mittels Verstärkung bis zum verzweifelten Aufbäumen des Kreml. „Nichts deutet darauf hin, dass Putin verzweifelt ist“, kritisiert Rüesch die bisherigen Reaktionen – und bekommt Kontra von mehreren Analysten.

„Auch wenn dies durchaus zu einer weiteren Eskalation des Konflikts führen könnte, ist die Annahme, dass die bloße Anwesenheit dieser Truppen den Konflikt zu einem Weltkrieg ausweiten wird, nicht seriös“, sagt James Rogers gegenüber Newsweek. Der Analyst des britischen Thinkank Council on Geostrategy hält den vermeintlichen Einsatz nordkoreanischer Truppen in russischen Diensten lediglich für eine „weitere kritische Phase des Konflikts“, wie er gegenüber dem Magazin äußert.

Kim Jong-uns erste Tranche: 3.000 nordkoreanische Soldaten – 10.000 Mann sollen nachrücken

Wie das ZDF unter Berufung auf den südkoreanischen Geheimdienst berichtet, trainieren aktuell mindestens 3.000 nordkoreanische Soldaten an vier Standorten in Russland – wofür, ist noch fraglich. 10.000 Mann sollen demnach bis Dezember nachrücken. Der deutsche Analyst Gustav C. Gressel geht davon aus, dass die nordkoreanischen Truppen vorerst in Kursk eingesetzt würden; darüber hinaus bezweifelt er die reibungslose Integration der Soldaten des Diktators Kim Jong-un. Dazu müssten auch genügend russische Offiziere nordkoreanisch sprechen.

„Nun liegt es an uns im Westen, zu entscheiden, ob ein direkter Krieg mit Russland in unserem Interesse ist oder nicht. Wir sollten aufpassen, dass wir auf diese angebliche Entwicklung nicht überreagieren, denn das würde den Westen in eine sehr ernste militärische Zwickmühle bringen.“

Als sicher scheint zu gelten, dass Wladimir Putin mit seinen eigenen Kräften haushalten muss. „Tatsächlich verfügt Putin in der russischen Bevölkerung noch über riesige, ungenutzte Reserven an Soldaten, auf die er bei Bedarf zurückgreifen kann. Im Moment scheint er jedoch aus Angst vor einer Destabilisierung der russischen Heimatfront zutiefst davor zurückzuschrecken, eine zweite Mobilmachung für den Krieg zu starten“, mutmaßt Olivia Yanchik. Die Analystin des U.S.-Thinktank Atlantic Council sieht in der Waffenhilfe aus Pjöngjang eine Option Putins, seine gelichteten Reihen an Soldaten wieder zu schließen.

Laut Analyst Gressel scheint jeder Russe, der sich einen Vorteil vom Armee-Dienst verspricht, bereits an der Front zu stehen. Eine weitere Mobilisierungswelle scheint so unpopulär zu sein, dass selbst der russische Diktator davor Halt macht. Die nordkoreanische Armee gilt als – an Soldaten gemessen – viertgrößte der Welt, mit 1,3 Millionen aktiven Soldaten laut dem Statistik-Dienst Global Fire-Power-Index.

EU attackiert diplomatisch: Russland nicht ernsthaft an einem gerechten Frieden interessiert

Möglicherweise wird die Gefahr eines Weltkriegs allein dadurch gedämpft, dass die nordkoreanische Armee als schlecht bewaffnet gilt und vornehmlich gegen den eigenen Hunger kämpft. „Die Kampfkraft der nordkoreanischen Armee ist wegen der Armut des Landes geringer, als die absoluten Zahlen vermuten lassen“, schreibt NZZ-Autor Martin Kölling. Ihm zufolge fehle eine gesicherte Versorgung der Truppen mit dem Lebensnotwendigen.

Laut dem Rat der Europäischen Union sende die zunehmende militärische Zusammenarbeit Russlands mit Nordkorea eine klare Botschaft aus: Trotz der erklärten Verhandlungsbereitschaft sei Russland nicht ernsthaft an einem gerechten, umfassenden und dauerhaften Frieden interessiert. Im Gegenteil handle Russland eskalierend und suche verzweifelt nach jeglicher Unterstützung für seinen Krieg, auch von Akteuren, die den globalen Frieden und die Sicherheit massiv stören, wie der Rat in einer Pressemitteilung schreibt. Allerdings bleibt die Europäische Union zurückhaltend und attackiert höchstens diplomatisch.

USA geben sich dezidiert: Nordkoreaner werden zu „legitimen militärischen Zielen“

Anders prescht beispielsweise der litauische Außenminister vor: „Nordkoreanische Truppenansprüche lassen Gerüchte über EU-Bodentruppen in der Ukraine wieder aufleben“, titelt dazu das Magazin Politico. Wie zuvor im Februar der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat demnach Gabrielius Landsbergis erklärt, „es sei an der Zeit, die Idee einer Entsendung von EU-Truppen zur Unterstützung Kiews zu überdenken“, wie das Magazin schreibt.

Dann allerdings wäre die Schwelle eines Weltkriegs wahrscheinlich erreicht; wobei offen bleibt, ob diese Truppen eventuell lediglich als Ausbilder kämen oder als Logistiker. Aber wahrscheinlich machte das in den Augen Putins keinen Unterschied. Die USA wollen ebenfalls kein Pardon geben: „Wenn diese nordkoreanischen Truppen gegen die Ukraine eingesetzt werden, werden sie zu legitimen militärischen Zielen“, wird aktuell John Kirby von der Washington (WP) Post zitiert.

Warnung vor Appeasement: USA könnten mit der Schwäche Putins kalkulieren

„Wir sind uns der potenziellen Gefahr bewusst“, sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats, gegenüber Reportern im Weißen Haus, wie die WP schreibt. „Und wir werden mit Verbündeten und Partnern, darunter auch den Ukrainern, darüber sprechen, was die richtigen nächsten Schritte sein werden.“ Allerdings legt die WP nahe, dass die USA mit der Schwäche Putins kalkulieren könnten.

„Das ist ein Hinweis darauf, dass er möglicherweise in noch größeren Schwierigkeiten steckt, als die meisten Leute glauben“, sagte Lloyd Austin über Putin. Der Verteidigungsminister rechnet durch den Einsatz Nordkoreas mit Konsequenzen auch für die Spannungen im Indo-Pazifik. Möglicherweise wird Diktator Kim Jong-un für seine Personalüberlassung bezahlt, mit Elektronik, die er für seine Atomwaffen braucht; was wiederum Auswirkungen auf Südkorea hätte. In einer Auseinandersetzung zwischen China und den USA, beispielsweise um Taiwan, könnte Nordkorea einer US-amerikanisch-südkoreanischen Allianz in die Flanke fallen – auch das halten Beobachter für möglich.

Appeasement-Politik

Appeasement-Politik vom Englischen „Beschwichtigung, Beruhigung“ steht in den internationalen Beziehungen für die Zurückhaltung, die Beschwichtigung und das Entgegenkommen gegenüber außenpolitisch aggressiven 
Staaten – beispielhaft dafür die britische Politik unter Premierminister Neville Chamberlain gegenüber dem Dritten Reich 1935–39.

Quelle: Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon.

Für Analysten wie Journalisten ist die Sache jedenfalls klar, wie NZZ-Autor Andreas Rüesch aktuell und stellvertretend klarstellt: „zunächst gilt es, zu erkennen, dass Europäer und Amerikaner mit ihrem ständigen Appeasement zu dieser gefährlichen Entwicklung geradezu eingeladen haben“, wie er schreibt.

Wenn der Westen versäumte, für diesen ersten direkten ausländischen Eingriff in die russische Invasion einen angemessenen Preis zu fixieren, wäre ein katastrophaler Präzedenzfall geschaffen, glaubt Atlantic Council-Analystin Olivia Yanchik. Sie rechnet damit, dass Putin die Situation schleichend eskalieren lassen und sukzessive weitaus mehr nordkoreanische Soldaten nach Europa einsickern lassen könnte, würde sich der Westen zurückhalten.

Grundsätzlich gilt die Frage: Für wessen Interessen steht die Ukraine ein

Für Rüesch wäre insofern jetzt die Zeit gekommen, die Ukraine mit weit reichenden West-Waffen direkt nach Russland hineinschießen zu lassen; im Westen würde sich dadurch dennoch keines der Geberländer als Kriegspartei definieren. Südkorea und die Ukraine sähen das sicher ähnlich – grundsätzlich aber dreht sich jedes Verhalten um die Frage, für wessen Interessen die Ukraine einsteht: für ihre eigenen oder stellvertretend für die Freiheit Europas?

Insofern sind die Argumente zugunsten einer Zurückhaltung gewichtig, meint Mark Episkopos im Magazin Responsible Statecraft; sie müssten sie auch vor dem Hintergrund der umfassenderen Interessen aller einzelnen Staaten betrachtet werden; ihm zufolge habe die Regierung Selenskyj zu ihrer außenpolitischen Priorität gemacht, den Westen in einen direkten Konflikt mit Russland zu verwickeln, weil sie erkannt hat, dass dies der einzige Weg sei, wie die Ukraine gewinnen könne.

„Nun liegt es an uns im Westen, zu entscheiden, ob ein direkter Krieg mit Russland in unserem Interesse ist oder nicht. Wir sollten aufpassen, dass wir auf diese angebliche Entwicklung nicht überreagieren, denn das würde den Westen in eine sehr ernste militärische Zwickmühle bringen.“

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