„Nerven liegen blank“: Macrons Atomwaffen-Test als Feuershow vor der Europa-Wahl
Frankreichs Präsident Macron zielt mit einer Atomrakete auf Russland und will wohl nur die eigenen Rechtspopulisten treffen – als starker Mann Europas.
Paris – „Mittlerweile erkennt Frankreich an, dass seine Russland-Politik gescheitert ist“, schreibt Sven Arnold. Als Grundlage der neuen französischen Entschlossenheit nennt der Politikwissenschaftler der Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) eine Rede von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron von Mai 2023. Angesichts des damals schon ein Jahr währenden Ukraine-Krieges „entschuldigte er sich für die früheren Fehleinschätzungen und schloss eine schnelle Rückkehr zur Normalität mit Russland aus“, wie Arnold schreibt. Möglicherweise hat Macron damit Lunte gelegt an den Verlauf der militärischen Entwicklung – das mutmaßt die Zeitung Der Freitag.
„Man fragt sich nach der politischen Zurechnungsfähigkeit von europäischen Spitzenpolitikern und sieht, wie blank die Nerven gerade liegen“, schreibt das Blatt. Zwischenzeitlich hatte Macron offen philosophiert, Nato-Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden, woraufhin Wladimir Putin seine atomaren Streitkräfte zu einem Manöver mobilisiert hatte. Jetzt hat auch Frankreich einen atomaren Marschflugkörper getestet – ein Flashback in den Kalten Krieg der 1980er-Jahre: Die Rüstungsspirale beginnt langsam wieder Fahrt aufzunehmen. Oder wie Freitag-Autor Lutz Herden befürchtet: „Der Wahnsinn nimmt seinen Lauf.“
Signal nach innen und außen: Frankreichs Raketentest kurz nach Russlands Atom-Manöver
Verteidigungsminister Sebastien Lecornu hat laut Berichten verschiedener Medien verkündet, dass Frankreich „seinen ersten Testabschuss einer modernisierten nuklearfähigen Rakete, der ASMPA-R, durchgeführt habe. Die Rakete soll von einem Rafale-Kampfflugzeug gestartet worden sein. „Dies geschah einen Tag, nachdem Russland angekündigt hatte, in seinem südlichen Militärbezirk, der sich von Russland bis in das besetzte ukrainische Gebiet erstreckt, mit Atomübungen begonnen zu haben“, wie der britische Guardian schreibt. Nach Einschätzung der Medien seien der Test selbst und dessen Bekanntmachung ein Signal nach innen wie nach außen.
„Man fragt sich nach der politischen Zurechnungsfähigkeit von europäischen Spitzenpolitikern und sieht, wie blank die Nerven gerade liegen“
Lecornu zufolge habe die Rafale ihre Rakete auf einem Flug über nationalem Territorium ohne Sprengkopf abgefeuert. Der Flug habe einen nuklearen Luftangriff simulieren sollen und sei lange geplant gewesen, wie der Guardian ausführt. Demnach wolle Frankreich künftig 13 Prozent seiner Ausgaben für das Militär in die nukleare Nachrüstung stecken und auch Raketen einer neuen Generation anschaffen. ASAMP-R ist bereits ein Projekt davon, wobei das „R“ für „renovated“ („erneuert“) steht und eine Weiterentwicklung des Mitte der 1980er-Jahre eingeführten Air-sol moyenne portée (ASMP; „Luft-Boden-Rakete mittlerer Reichweite“) darstellt, wie das Magazin Army Recognition berichtet.

Die Entwicklung war wohl 2016 angestoßen worden und soll die Reichweite erhöhen sowie die Nutzlast auf einen thermonuklearen Sprengkopf von 300 Kilotonnen Sprengkraft. Die Ende des Zweiten Weltkriegs über Hiroshima abgeworfene Atombombe soll eine Sprengkraft von 16 Kilotonnen TNT gehabt haben. „Es tut sich viel auf französischer Seite“, hat Sven Arnold in einem Vortrag der Konrad-Adenauer-Stiftung behauptet; dies sieht er in der Person von Präsident Emmanuel Macron manifestiert. Macron habe sich in der französischen Außenpolitik vom Bremser zum Treiber entwickelt.
Ukraine-Krieg entzweit Europa: Partner Zweifeln an Macrons gesamteuropäischen Zielen
Lange vor dem Ukraine-Krieg und lange nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim hatte Frankreich noch anders geklungen, beinahe anti-europäisch, wie die Analystin Lydia Wachs zusammengefasst hat: Paris habe mit seiner Russlandpolitik der vergangenen Jahre, ihr zufolge, unter den prinzipiell verbündeten Ländern in der EU und der Nato „grundsätzliche Zweifel“ daran genährt, dass das Land „nationale Interessen hinter gesamteuropäische Ziele zurückstellen würde“.
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Spätestens bis zur Präsidentenwahl in den USA im November werden die Europäer ohnehin befürchten, durch einen Regierungswechsel allein für ihre Sicherheit sorgen zu müssen. Frankreich wäre dann die einzige Atommacht in Kontinentaleuropa und der nukleare Schutzschirm gegen die atomare Bedrohung Russlands. Großbritannien würde nukleare Abschreckungskompetenz von See her zusteuern. Die Federation of American Scientists (FAS) beziffert Frankreichs atomare Sprengköpfe in diesem Jahr auf 290, Großbritannien soll laut FAS über 225 verfügen, die USA über insgesamt 5.044, und Russland über 5.580 Sprengköpfe.
Brandgefährliche Rhetorik: Macrons Reden wurden mit der Zeit immer schärfer
Die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) rechnet zusätzlich mit rund 150 US-amerikanischen Atomsprengköpfen unter Nato-Kommando auf europäischem Boden, also in Belgien, Deutschland, den Niederlanden, Italien, und der Türkei. Großbritannien und Frankreich unterhalten ihre Atomwaffen vor allem aufgrund eines nationalen Sicherheitsbedürfnisses. Hat Großbritannien „seine nuklearen Kapazitäten von Anfang als Teil der gemeinsamen Nato-Abschreckung definiert“, wie die taz schreibt, entscheidet Frankreich autonom über die Nutzung der Waffen und verweigert auch die Teilnahme an der European Sky Shield Initiative (ESSI) – eben weil sowohl nukleare wie konventionelle Raketen eigene Entwicklungen darstellen.
Über den Einsatz von Frankreichs Atomwaffen entscheidet allein der Präsident – aktuell Emmanuel Macron. Politikwissenschaftler Sven Arnold hat jüngst den Wandel in Macrons Rhetorik nachgezeichnet: „Von ,Russland darf nicht gedemütigt werden‘ (Juni 2022) über ,Russland darf nicht siegen‘ (Februar 2023) bis zu ,die Niederlage Russlands ist unerlässlich‘ (Februar 2024).“ Für Anfang 2024 notiert Arnold Macrons Forderung nach einem ,strategischen Ruck‘ in Europa. Offenbar geht die Angst um in Frankreich, und Macron keilt auch gegen seine Nachbarn aus.
Von einer „disruptiven Zeitenwende“ spricht der Politikwissenschaftler mit deutsch-französischem Hintergrund und beobachtet, dass Paris und Berlin sicherheitspolitisch langsam aber sicher auseinanderdriften. Allerdings scheinen die benachbarten Völker die Lage ähnlich einzuschätzen – ähnlich pessimistisch. Nur jeder Zehnte Europäer traut der Ukraine noch einen Sieg gegenüber Russland zu; knapp unter 20 Prozent der Deutschen und Franzosen gehen mittlerweile von einem Sieg von Wladimir Putins Truppen aus; das ergab eine im Februar veröffentlichte Umfrage von fast 20.000 Menschen in zwölf Ländern durch den in Berlin ansässigen European Council on Foreign Relations (ECFR). Frankreich und Deutschland liegen mit jeweils neun Prozent Zuversicht in einen Sieg der Ukrainer leicht unter dem Durchschnitt. Leicht über dem Durchschnitt von 31 Prozent liegen beide Länder in den Werten für die Zustimmung einer noch stärkeren Unterstützung der Ukraine.
Turbo für den Wehretat: Frankreich will fünf Prozent mehr in atomare Rüstung stecken
Unter diesen Vorzeichen mag Macrons Turbo für den nuklearen Wehretat vielleicht verständlicher werden; die taz spricht von einem Achtel, das bisher vom Militärhaushalt in die Atomstreitkräfte geflossen ist. Die Tagesschau berichtet von 400 Milliarden Euro, die bis 2030 ins gesamte Militär investiert werden sollen – davon künftig fünf Prozent mehr als bisher in atomare Aufrüstung.
So oder so rechnen Experten mit wenig abschreckender Wirkung französischer Nuklearwaffen. Die französische Doktrin erklärt Lydia Wachs damit, dass Paris mit einem Erst- oder Gegenschlag einem gegnerischen Staat ‚inakzeptablen Schaden‘ zufügen könne. Frankreichs Kernwaffen richten sich daher nicht gegen Nuklearstreitkräfte eines potentiellen Kontrahenten oder vielleicht heranrollende Panzerarmeen, sondern gegen dessen „politische, wirtschaftliche und militärische Nervenzentren“, wie die Analystin des SWP behauptet.
In der aktuellen Situation scheint aber der nukleare Erstschlag durch Russland lediglich mit einer taktischen Waffe auf die baltischen Staaten zu erfolgen, um die Nato vielleicht von einem Eingreifen abzuhalten und mit dem Baltikum einen kleinen Gewinn einzustreichen. Frankreich bliebe dann vielleicht lediglich eine Antwort mit strategischen Waffen, wie Lydia Wachs mutmaßt: „Damit müsste Paris einen russischen nuklearen Vergeltungsschlag gegen französisches Territorium in Kauf nehmen“, schreibt sie und empfiehlt: „Selbst in einer Welt, in der die USA nicht mehr die nukleare Abschreckung für Europa garantieren, dürfte es daher unwahrscheinlich sein, dass Frankreichs Alliierte ihre Sicherheit ohne Wenn und Aber Paris anvertrauen.“
Die Tagesschau unterstellt Macron deshalb vielmehr einen rhetorischen Erstschlag in der Innenpolitik – gegen die rechtspopulistische Rassemblement National (RN); die Partei der Rechtspopulistin Marine Le Pen liegt vor der Europawahl Anfang Juni mit 30 Prozent Zustimmung in Umfragen mehr als zehn Prozent vor Macrons pro-europäischer Renaissance, wie Euronews berichtet. Den starken Mann könnte Macron also auch nur spielen, überlegt die Tagesschau: „Als europäischer Leader in der Ukraine-Frage wahrgenommen zu werden, kann da nicht schaden.“
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