„Überschallschnelle Entwicklung“: Putin spielt mit seinen strategischen Atomwaffen

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Das Feuerzeug für den Weltenbrand: Eine russische Interkontinentalrakete RS-24 „Jars“ auf einer mobilen Abschussrampe auf der Halbinsel Kamchatka (Archivfoto). Russland testet seine nuklearen Kapazitäten aktuell erneut. © IMAGO / ITAR-TASS / Russian Defence Ministry

Russland soll Interkontinentalraketen bewegen – und getestet haben. Vorbereitung für den Tag des Jüngsten Gerichts oder ein Bluff? Beides ist denkbar.

Moskau – Alles nur ein großer Schwindel – diese Möglichkeit stellte das ZDF in den Raum. Anfang vergangenen Jahres war der im ukrainischen Charkiw geborene Juri Schwez öffentlich aufgetreten mit der beruhigenden Behauptung, Russlands Atom-Arsenal sei ein Hirngespinst und dessen atomares Explosiv-Material gammle vor sich hin. Verschiedene Experten äußerten gegenüber dem ZDF eher gegenteilige Meinungen zur Aussage des ehemaligen Agent des russischen Geheimdienstes KGB. Jetzt allerdings will Wladimir Putin die Welt offenbar mit Fakten beeindrucken: Aktuell soll das russische Verteidigungsministerium ein Video veröffentlicht haben – auf dem sei die vorbereitende Verlegung einer RS-24-„Jars“-Atomrakete zu sehen, wie Bild und t-online berichten.

Die Übung müsste aber schon seit wenigen Wochen abgeschlossen sein – die russische Nachrichtenagentur Tass hat Anfang April den Erfolg eines Manövers von Ende März vermeldet: „Die Strategischen Raketentruppen haben eine Kommando- und Stabsübung mit der Irkutsker Raketenformation abgeschlossen, die mit Jars-Raketenwerfern bewaffnet war. Insgesamt waren an den Übungen über 3.000 Mann und etwa 300 Großfahrzeuge beteiligt“, schreibt die Tass unter Bezug auf das russische Verteidigungsministerium.

Putins Atom-Macht: „genug Sprengkraft um den Globus in Schutt und Asche zu legen“

Die Übung hat offenbar die Mobilität der russischen strategischen Raketentruppen unter Beweis stellen sollen. Laut der Tass haben die Besatzungen der Interkontinentalraketen-Träger die Verlegung über Marschdistanzen von 100 Kilometern geübt, sie haben das Beziehen von Stellungen genau so trainiert wie den Stellungswechsel, die Funktionen ihrer Ausrüstung erprobt sowie das Tarnen und das Herstellen von Gefechtssicherheit. Auch via Telegram wurde über die Übung berichtet. Demnach sei das Marschziel der mobilen Einheiten der „Weltraumbahnhof“ Plessezk gewesen. Dieses Raketen-Gelände liegt im Nordwesten Russlands im Verwaltungsbezirk Archangelsk. Laut Telegram hat das Geschoss sein Ziel auf dem Übungsgelände Kura auf der Halbinsel Kamtschatka planmäßig erreicht.

„Es ist absolut inakzeptabel, untätig zu bleiben. Die Veränderungsgeschwindigkeit in allen für die Streitkräfte wichtigen Bereichen ist heute ungewöhnlich schnell. Es ist nicht einmal schnell wie die Formel 1, sondern überschallschnell. Man bleibt für eine Sekunde stehen und fällt sofort zurück.“

Russland soll über etwas mehr als 300 Interkontinental-Raketen verfügen – das will der Wissenschaftliche Dienst des Europäischen Parlaments für 2019 zusammengetragen haben, wie die Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht hat, dazu mehrere Tausend atomare Sprengköpfe. An deren Einsatzfähigkeit bestehe grundsätzlich kein Zweifel, bestätigen verschiedene Wissenschaftler dem ZDF: „Fakt ist, dass Russland fast 6.000 Nuklearwaffen besitzt. Selbst wenn die Hälfte dieser Waffen nicht einsatzfähig wäre, hätte Russland noch immer genug Sprengkraft um den gesamten Globus in Schutt und Asche zu legen“, sagt beispielsweise Ulrich Kühn.

Putins Atom-Manöver: „nicht so spannend, was da passiert“

Die Manöver an sich bezeichnet der Politikwissenschaftler des Hamburger Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik als wenig spektakuläres Szenario, wie er dem ZDF gegenüber geäußert hat in Bezug auf Putins Ankündigung von Tests seiner Nuklearstreitkräfte: „Es ist, offen gestanden, nicht so spannend, was da passiert“, sagte er. Russland testet also offenbar gleichermaßen seine taktischen wie strategischen Nuklearwaffen. 12.000 Kilometer soll die „Jars“ zurücklegen können. Strategische Atomwaffen sind ein Relikt des Kalten Krieges; mit ihnen waren die beiden Machtblöcke USA und UdSSR in der Lage, sich direkt zu beschießen und massiv zu vernichten. Laut der Bundeszentrale für politische Bildung sind das Waffen für den „globalen Schlagabtausch“ – taktische Atomwaffen dagegen wirken kleinräumiger und sind für Schauplätzen wie Europa oder Asien konzipiert worden.

Es sei immer noch „90 Sekunden vor Mitternacht“, schreibt der Wissenschafts- und Sicherheitsausschuss des US-amerikanischen Bulletin of the Atomic Scientists und „lässt die Zeiger seiner Weltuntergangsuhr unverändert, da unheilvolle Trends die Welt weiterhin auf eine globale Katastrophe hinweisen“, wie er schreibt. Seine Autoren Hans Kristensen und Matt Korda sehen Russland in der „Endphase einer jahrzehntelangen Modernisierung seiner strategischen und nicht-strategischen Nuklearstreitkräfte, um Waffen aus der Sowjetzeit durch neuere Systeme zu ersetzen“.

Putins Atom-Mantra: „die strategische Parität in der Welt wahren“

Kristensen und Korda verweisen auf eine Rede Putins zum Jahresende 2020: „Es ist absolut inakzeptabel, untätig zu bleiben. Die Veränderungsgeschwindigkeit in allen für die Streitkräfte wichtigen Bereichen ist heute ungewöhnlich schnell. Es ist nicht einmal schnell wie die Formel 1, sondern überschallschnell. Man bleibt für eine Sekunde stehen und fällt sofort zurück.“ In der gleichen Rede kündigte er an, was heute das russische Handeln zu bestimmen scheint: „Erstens ist es notwendig, unsere Atomwaffen in hoher Kampfbereitschaft zu halten und alle Komponenten der nuklearen Triade weiterzuentwickeln. Dies ist von grundlegender Bedeutung, um unsere nationale Sicherheit zu gewährleisten und die strategische Parität in der Welt zu wahren“, hat Wladimir Putin vor hohen Funktionären von Partei und Militär geäußert.

Die nukleare Triade umfasst atomare Erst- wie Zweitschlagwaffen, also strategische Bomber sowie Interkontinentalraketen von Trägern an Land und auf See. Insgesamt 233 Raketen des Typs RS-24 „Jars“ beziehungsweise SS-27 soll die Russische Föderation laut dem Bulletin of the Atomic Scientists besitzen, davon 153 auf mobilen Abschussrampen, wie sie jetzt unterwegs gewesen sind. Diese Systeme dienten der „Eskalation zur Deeskalation“, wie bereits 2017 John Hyten formuliert hat und was im Bulletin weiter ausgeführt wird. Der General war ehemaliger Kommandeur des Strategischen Kommandos der US-Streitkräfte und beschreibt das, was den Russen immer noch unterstellt wird – einen Verdacht, den die Russen mit ihrer fortwährenden Rhetorik leidlich nähren.

Putins Atom-Doktrin: „Konflikt zu günstigen Bedingungen beenden können“

US-Analysten hatten laut dem Bulletin 2018 unter der Präsidentschaft von Donald Trump die russische Nuklear-Doktrin dahingehend interpretiert, dass „die russische Strategie und Doktrin den potenziellen Zwangs- und Militäreinsatz von Atomwaffen betont“. Kristensen und Korda zitieren aus dem unter Trump veröffentlichten Nuclear Posture Review wörtlich: „Moskau droht mit einem begrenzten nuklearen Ersteinsatz und führt diesen auch durch, was auf die falsche Erwartung schließen lässt, dass erzwungene nukleare Drohungen oder ein begrenzter Ersteinsatz die Vereinigten Staaten und die Nato lahmlegen und dadurch einen Konflikt zu für Russland günstigen Bedingungen beenden könnten.“

Tatsächlich hält sich diese Idee weiter in den Überlegungen auch europäischer Konfliktforscher: dass Russland am Ende seiner konventionellen Möglichkeiten einen begrenzten Atomschlag führt – beispielsweise gegen das Baltikum – , um die Nato zu zwingen, wählen zu müssen zwischen der Akzeptanz begrenzten russischen Landraubes oder dem Risiko eines nuklearen Armageddon. Tatsächlich gebührt der „Jars-24“ weitgehend Russlands größte Aufmerksamkeit in deren Nachrüstungs-Bestrebungen. Kristensen und Korda registrieren anhand von Satellitenbildern seit Jahren Bauarbeiten an den Standorten der Raketen-Einheiten und eine kontinuierliche Modernisierung ihrer beiden Modelle, die entweder einzelne oder Mehrfach-Sprengkörper transportieren können.

Putins Drohung mit Atomwaffen sei reine „Erpressung“ – und das sei schon „die Waffe an sich“, behauptete Juri Schwez gegenüber dem ZDF. Möglicherweise reines Geschwätz oder geschickt durchgesteckte Propaganda des Kreml. Das ukrainische Nachrichten-Portal dialog.ua zweifelt an den Informationen des Whistleblowers: „Einige Quellen schreiben, dass er in Wirklichkeit nur eine pro-ukrainische Position vertritt, um die Aufmerksamkeit abzulenken.“ Laut der Nachrichtenagentur Tass haben die russischen Raketentruppen auch geprobt, „subversiven Gruppen“, wie sie formuliert, beziehungsweise der gegnerischen Aufklärung entgegenzutreten. Offenbar hat sie dabei Einsatzbereitschaft bewiesen oder will zumindest dem Westen gegenüber einen entsprechenden Eindruck vermitteln.

„Ziel des Teststarts war es, die taktischen, technischen und flugtechnischen Eigenschaften des modernen Raketensystems zu bestätigen“, schreibt die Tass, „alle gestellten Aufgaben wurden erfolgreich ausgeführt“. Auch das könnte Teil sein von Putins nuklearer Strategie, wie das ZDF überspitzt: „Russlands Säbelrasseln mit Atomwaffen“.

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