Aufatmen im Rentenstreit. Zumindest vorerst. Das umstrittene Gesetz zur schwarz-roten Rentenreform hat am Freitag den Bundestag passiert und damit seine größte Hürde genommen. Doch der Beschluss markiert keinen Abschluss, sondern den Auftakt zu einer ganzen Serie weiterer Anpassungen im deutschen Rentensystem. Die Bundesregierung bereitet bereits die nächste, deutlich umfassendere Reformrunde vor.
Dazu soll im Bundeskabinett eine neue Rentenkommission eingesetzt werden, besetzt mit Vertretern aus Politik und Wissenschaft. Bis zum Ende des zweiten Quartals 2026 soll die Kommission Vorschläge vorlegen. Auf Basis dieser Empfehlungen will die Koalition weitere tiefgreifende Rentengesetze erarbeiten.
Daneben gibt es einen weiteren Streitpunkt: die Frage, wie lange Menschen in Deutschland arbeiten können und tatsächlich arbeiten. Gerade sie entscheidet darüber, ob politische Reformen im Alltag der Beschäftigten ankommen oder an ihren Lebensrealitäten vorbeigehen.
Aktuell orientiert sich diese Diskussion am Regelalter von 67 Jahren. Auswertungen zeigen jedoch, dass das tatsächliche Rentenalter deutlich darunter liegt und sich zwischen den Berufsgruppen erheblich unterscheidet. Nur etwa 40 Prozent der neuen Ruheständler im Jahr 2024 haben bis zum gesetzlichen Rentenalter gearbeitet. Die übrigen sind vorzeitig in Rente gegangen, teils mit erheblichen Abschlägen. Das geht aus Zahlen der Deutschen Rentenversicherung hervor.
Tatsächliches Rentenalter unterscheidet sich stark nach Berufsgruppen
Formal gilt zwar die 67, doch laut einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) beträgt das durchschnittliche Renteneintrittsalter der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten 64,4 Jahre – also rund 1,5 Jahre unter der geltenden Altersgrenze. Der Bericht zeigt außerdem, dass viele Menschen den Arbeitsmarkt schon vor der Rente verlassen. Die Regelaltersgrenze ist demnach für viele faktisch gar nicht erreichbar.
Der tatsächliche Zeitpunkt des Rentenübergangs variiert deutlich zwischen den Berufsgruppen. Das IAB betont, dass Arbeitsbedingungen, Berufsbelastung und Erwerbsverläufe entscheidend dafür sind, ob jemand die 67 überhaupt erreichen kann.
Früherer Renteneintritt bei hoher körperlicher Belastung
Die Grafik macht sichtbar, wie stark sich die Renteneintrittsalter zwischen den Berufsgruppen unterscheiden.
In Sicherheitsberufen führen Schichtdienst, permanente Anspannung und hohe gesundheitliche Risiken dazu, dass viele Beschäftigte deutlich früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Ein ähnliches Muster zeigt sich in Reinigungsberufen, im Handel und in Teilen der Fertigung: körperlich fordernde Tätigkeiten, niedrige Löhne und häufig unterbrochene Berufswege erhöhen die Wahrscheinlichkeit, den Beruf nicht bis zur gesetzlichen Altersgrenze ausüben zu können.
Im Baugewerbe und in der Logistik wirken vor allem schwere körperliche Arbeit, schlechte ergonomische Bedingungen und ein erhöhtes Unfallrisiko belastend. Diese Faktoren verkürzen die tatsächliche Erwerbsdauer spürbar.
Der IAB-Bericht macht zudem deutlich, dass belastende Arbeitsbedingungen branchenübergreifend ein wesentlicher Treiber für frühe Rentenzugänge sind. Ein Drittel der Babyboomer bewertet seine Arbeitsbedingungen als „schlecht“, was den Druck zur Frühverrentung weiter erhöht.
Spätere Renteneintritte finden sich vor allem in Berufen mit besseren Arbeitsbedingungen, höherer Qualifikation oder größerer Flexibilität. In IT- und naturwissenschaftlichen Tätigkeiten, aber auch in unternehmensnahen Dienstleistungen erleichtern höhere Einkommen, geringere körperliche Beanspruchung und mehr Autonomie ein längeres Arbeiten.
Spätere Renteneintritte bei qualifizierten und flexibleren Tätigkeiten
In geisteswissenschaftlichen und künstlerischen Tätigkeiten ermöglichen flexible Formen der Selbstständigkeit späteren Rückzug aus dem Erwerbsleben. Besonders stabil wirken die Strukturen im Land-, Forst- und Gartenbau: selbstständige oder familiengeführte Betriebe, eine enge Bindung an den eigenen Hof und flexible Übergänge führen dazu, dass viele dort länger im Beruf bleiben und häufig sogar nach Rentenbeginn weiterarbeiten.
Besonders bemerkenswert: Rund 38 Prozent aller Rentner arbeiten im Ruhestand weiter – und zwar oft im gleichen Beruf wie zuvor. Dies zeigt, dass viele Tätigkeiten so gestaltet sind, dass ein Weiterarbeiten möglich ist, während in anderen Berufen ein abruptes Ausscheiden unvermeidbar bleibt.
Die Auswertung zeigt außerdem, dass Menschen, die bereits vor der Altersgrenze aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssen, signifikant seltener im Ruhestand weiterarbeiten. Wer hingegen bis zur Rente erwerbstätig bleibt, ist später zu 52 Prozent weiterhin beruflich aktiv. Das zeigt, wie eng Arbeitsfähigkeit und tatsächlicher Renteneintritt miteinander verbunden sind.
Warum politische Renten-Debatte und Realität auseinanderfallen
Die Debatte orientiert sich jedoch häufig noch an einem einheitlichen Rentenalter, während die Arbeitswelt stark unterschiedliche Arbeitsbiografien hervorbringt.
Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) sagt etwa: „Der demografische Wandel und die weiter steigende Lebenserwartung machen es unumgänglich: Die Lebensarbeitszeit muss steigen.“ Sie warnte zuletzt davor, dass es langfristig nicht gut gehen könne, wenn „wir nur zwei Drittel unseres Erwachsenenlebens arbeiten und ein Drittel in Rente verbringen“.
Es stellt sich aber die Frage, wie höhere Altersgrenzen wirken sollen, wenn große Teile der Beschäftigten schon heute mit 62 bis 64 Jahren ausscheiden?
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) warnte indes in der aktuellen Debatte davor, die Frage längerer Lebensarbeitszeiten losgelöst von der Realität vieler Beschäftigter zu führen. „Wer möchte, dass Menschen generell länger arbeiten müssen, sollte außerdem klären, wie sie das gerade in belastenden Berufen überhaupt schaffen können“, betonte er. Mit Blick auf soziale Gerechtigkeit forderte Wüst, Präventions- und Rehabilitationsleistungen deutlich früher und häufiger einzusetzen, damit längeres Arbeiten möglich werde, ohne dass sich Beschäftigte „kaputt arbeiten“.
IAB: „Starke Erhöhung des Alters“ könnte kontraproduktiv sein
Wenn sich die Arbeitsbedingungen nicht spürbar verbessern, viele Beschäftigte keine Chance auf Weiterbildung haben und gesundheitliche Belastungen hoch bleiben, dann würde ein höheres Rentenalter in der Praxis nicht zwangsläufig auch dazu führen, dass Menschen länger arbeiten.
Stattdessen würden mehr Menschen weiterhin früher aus dem Beruf gedrängt, weil sie gesundheitlich oder arbeitsmarktbedingt nicht durchhalten können. Die Folge wären mehr Rentenkürzungen durch vorzeitige Rente und mehr Erwerbsminderungsrenten. Also genau das Gegenteil dessen, was eine Anhebung erreichen soll.
Der IAB-Bericht macht deutlich, dass eine Anhebung des Rentenalters ohne gleichzeitig verbesserte Arbeitsbedingungen, Gesundheitsprävention und Weiterbildung kaum zu längeren Erwerbsphasen führt. Die Daten zeigen vielmehr, dass gesundheitliche Belastungen und arbeitsmarktbedingte Risiken eher zu einem früheren Austritt führen würden. Eine reine Erhöhung der Altersgrenze wäre somit in vielen Fällen kontraproduktiv.