Alle werben um Vietnam: Wie das aufstrebende Land erfolgreich zwischen China und den USA navigiert

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Boomland Vietnam: Die sozialistische Volksrepublik ist das einzige Land, das 2023 US-Präsident Joe Biden und Chinas Staatschef Xi Jinping besuchten. Das Land bleibt neutral – und wird von allen umworben.

Es erscheint fast ein wenig bizarr, wenn US-Präsident Joe Biden bei seinem Staatsbesuch im kommunistischen Vietnam über die Erosion der Menschenrechte im demokratischen Indien spricht. Doch genau so war es: Biden reiste im September direkt vom G20-Gipfel in Neu-Delhi nach Hanoi. Und weil Indiens Premierminister Narendra Modi eine gemeinsame Pressekonferenz verweigert hatte, nutzte Biden für seine Warnungen eben eine Pressebegegnung in Vietnam. Auf seiner Reise nach Hanoi unterschrieb Biden dann noch eine „umfassende strategische Partnerschaft“ mit Vietnam und bejubelte dies als „Beginn einer großen Ära der Zusammenarbeit“.

Diese Woche war es nun Chinas Staatschef Xi Jinping, und damit Bidens geopolitischer Gegenspieler, der in Hanoi aufschlug. Xi betonte, wie wichtig es sei, gemeinsam eine „Schicksalsgemeinschaft für eine geteilte Zukunft“ aufzubauen, und paraphrasierte damit seine eigenen globalen politischen Initiativen – mit denen er die globale Ordnung zugunsten Chinas verändern möchte, mithilfe wohlgesonnener Partnerstaaten. China unterschrieb während Xis Staatsbesuch 36 Abkommen, darunter die Finanzierung einer Eisenbahnlinie von China nach Vietnam im Rahmen der Neuen Seidenstraße, gemeinsame Seepatrouillen und einen Dreijahresplan zur Förderung des bilateralen Handels.

Vietnams KP-Generalsekretär Nguyen Phu Trong holt Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping auf dem Flughafen in Hanoi ab.
Xi Jinping beschwor bei seinem Staatsbesuch in Vietnam die enge Freundschaft beider Länder. Doch Hanoi kooperiert auch zunehmend mit Washington. © IMAGO/Pang Xinglei

Vietnam: Strategischer Partner für alle

Damit ist Vietnam das einzige Land der Welt, das 2023 sowohl Biden als auch Xi empfing. Es passt zu Vietnams Strategie der Blockfreiheit: Hanoi will sich weder von Washington noch von Peking ins eigene Lager ziehen lassen – sondern von den Beziehungen zu beiden profitieren. Zum einen schließt Hanoi mit den USA eine „umfassende strategische Partnerschaft“ und damit das engste in der internationalen Diplomatie übliche Bündnis. Zum anderen trat Vietnam diese Woche Xi Jinpings „Schicksalsgemeinschaft“ bei.

Mit beiden Supermächten verbindet das Land eine komplizierte Beziehung, mit beiden hat Vietnam vor einem halben Jahrhundert noch Krieg geführt. Der Vietnamkrieg gegen die USA heißt dort „Amerikanischer Krieg“, an dessen Ende die Vietnamesen 1976 eine sozialistische Volksrepublik gründeten. Drei Jahre später führte das Land einen blutigen Grenzkrieg mit dem vermeintlichen Bruderstaat China. Bis heute herrscht in Vietnam Misstrauen gegenüber dem großen Nachbarn im Norden - nicht zuletzt, weil beide um Inseln im Südchinesischen Meer streiten.

Vietnam: 100-Millionen-Land mit rasanter Wirtschaftsentwicklung

Vietnam ist ein schmaler Staat, der sich von der Grenze zu China bis hinab nach Südostasien an die Küste zum Südchinesischen Meer schmiegt – und in dem fast 100 Millionen Menschen leben. Von den Verwüstungen des Vietnamkriegs hat sich das Land erholt; es hat eine rasante Entwicklungskurve hinter sich und heute ein Pro-Kopf-Einkommen von immerhin gut 4.000 US-Dollar. Das einst isolierte Land unterhält inzwischen Geschäftsbeziehungen zu 150 Ländern und einige Freihandelsabkommen, unter anderem mit der EU – und damit indirekt auch mit Deutschland.

Das Land profitiere derzeit stark von der „China Plus One“-Strategie vieler ostasiatischer und westlicher Firmen, schreibt die bundeseigene Außenwirtschaftsagentur Germany Trade and Invest (gtai) im aktuellen Länderreport. Vor einem Jahr reiste Bundeskanzler Olaf Scholz mit einer großen Wirtschaftsdelegation nach Vietnam, um für mehr Zusammenarbeit zu werben. Deutschland müsse Absatzmärkte, Lieferketten, Rohstoffquellen und Produktionsstandorte breiter aufstellen, betonte der Kanzler damals in Hanoi. „Da spielt die Zusammenarbeit mit Vietnam eine ganz, ganz zentrale Rolle.“

Vietnams erfolgreiche Schaukelpolitik zwischen China und den USA

Dass Vietnam ebenso wie China eine sozialistische Volksrepublik ist, mit dem gleichen leninistischen Regierungssystem, scheint – anders als im Umgang mit Peking – niemanden wirklich zu stören. Die gtai benennt lediglich eine „mögliche Verhärtung des politischen Regimes“ als einen der Risikofaktoren für die Reputation von Firmen im Vietnam-Geschäft.

Vietnam selbst agiert in der Außenpolitik pragmatisch und schafft es bislang, gleichwertige Beziehungen zu Ländern aufzubauen, die miteinander in Konkurrenz oder Konflikt stehen. Dieses Gleichgewicht bezeichnete Vietnams KP-Chef Nguyen Phu Trong erstmals 2016 als „Bambusdiplomatie“, abgeleitet von den Eigenschaften der in Vietnam verbreiteten Bambuspflanze: stark und widerstandsfähig, aber auch flexibel und anpassungsfähig.

Vietnam sucht sich seine Freunde selbst

Kurz nach Bidens Besuch war der vietnamesische Präsident Vo Van Thuong im Oktober nach Peking gereist, wo ihn Chinas Staatschef darauf hinwies, dass die beiden Länder ja eine tiefe „Kameradschaft und Brüderlichkeit“ entwickelt hätten. Beide sollten die bilateralen Beziehungen als Priorität in ihrer jeweiligen Außenpolitik betrachten. War das eine versteckte Mahnung, bloß nicht zuviel Nähe mit den USA oder deren Verbündeten aufzubauen?

Vietnam blieb bei seinem Kurs. Ende November unterschrieb Präsident Vo Van Thuong bei einem Staatsbesuch in Tokio auch mit Japan eine „umfassende strategische Partnerschaft.“ Falls Peking das als Affront ansah, ist davon nichts zu bemerken. Xi Jinping reiste ja trotzdem nach Vietnam.

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