„Selbstbedienung“: Ex-Grüner Palmer mit scharfer Kritik am Bürgergeld
Boris Palmer äußerte sich erneut kritisch zum Bürgergeld. Der Ex-Grünen-Politiker glaubt, mit der Sozialleistung gebe es keinen Arbeitsanreiz mehr. Die Gesellschaft gerate so in Schieflage.
Tübingen – Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos) ist für seine kontroversen Äußerungen bekannt – oder wie er selbst sagen würde dafür, „klare Kante zu zeigen“. Menschen, die arbeiten können, sollen auch arbeiten, kommentierte der ehemalige Grünen-Politiker in einem am Mittwoch (17. Januar) veröffentlichten Gespräch mit der Rhein-Neckar-Zeitung (RNZ). Das Bürgergeld hält er im Vergleich zum Mindestlohn-Niveau für zu hoch. „Da muss man kein Sozialneider, kein AfDler oder Rassist sein, auf die Dauer hält eine Gesellschaft eine solche Spannung im unteren Einkommenssegment nicht aus“, so der Ex-Grünen-Politiker.
Bürgergeld-Debatte: Palmer kritisiert Anhebung des Bürgergelds im Vergleich zum Mindestlohnniveau
Die Erhöhung des Bürgergelds in Prozent gegenüber Dezember 2022 betrage 24 Prozent, so Palmer. „Wer von Ihnen – gut, der Vorstand der Deutschen Bahn – aber wer sonst hatte 24 Prozent mehr die letzten Monate?“, fragte der Oberbürgermeister Tübingens rhetorisch ins Publikum. Der Mindestlohn hingegen sei im gleichen Zeitraum um vier Prozent angehoben worden. „Mir gehts nicht um Sozialneid und ich behaupte nicht, dass ich von 563 Euro gut leben könnte, das ist natürlich Quatsch.“ Aber es müsse in der Relation stimmen. „Die Grundaussage: Wer arbeiten kann, der soll auch arbeiten, das würden noch immer die meisten Menschen unterschreiben.“ Genau das werde aber durch die aktuelle Regierungspolitik unterminiert, glaubt der Ex-Grünen-Politiker.
Das sei hochgefährlich. „Denn wenn das mal verloren gegangen ist, dann macht jeder nur noch Raffzahn-Selbstbedienung.“ Beim Bürgergeld sei nicht die Höhe entscheidend, sondern „die Kombination mit anderen Transferleistungen, die dazu führen würde, dass ich mit meiner Familie 3.800 Euro Bürgergeld-Anspruch hätte“, so Palmer im Gespräch mit RNZ. Eine entsprechende Rechnung hatte der Politiker zuletzt auch auf der Plattform X (vormals Twitter) geteilt.
Extrembeispiel Bürgergeld: Wie Palmer auf seine Rechnung kommt
Der Ex-Grünen-Politiker argumentierte in der Vergangenheit bereits mehrfach mit diesem Rechenbeispiel. „Herr Palmer rechnet offenbar mit einer Miete von deutlich über 2000 Euro für seinen Haushalt“, analysierte die Caritas. Mieten in dieser Höhe würden aber nur ausnahmsweise gemäß § 22 SGB II im Rahmen einer Karenzzeit von einem Jahr übernommen. „Ein solcher Anspruch bestünde deshalb nur vorübergehend.“
Eine Familie mit vier Kindern, die vom Mindestlohn leben muss, wäre in diesem von Palmer gewählten Extrembeispiel rechnerisch tatsächlich schlechtergestellt als mit Bürgergeld. Doch der Staat würde in diesem Fall noch weitere Hilfen zur Verfügung stellen, etwa Wohngeld, wodurch ihr wieder mehr Geld zur Verfügung stünde. Entsprechend stimmt die Gegenüberstellung nur bedingt. „Herr Palmer rechnet hier mit der absoluten Ausnahme von der Regel, an der Lebensrealität von Bürgergeldberechtigten gehen die Zahlen weit vorbei“, kommentierte die Caritas weiter.
Doch auch wenn für die arbeitende Bevölkerung nur wenig mehr übrigbleibe, hält dies Palmer nicht für gerecht. „Du schuftest den ganzen Monat, zahlst brav in die Kassen ein, Kindergartengebühren und das was dir netto mehr bleibt vom ganzen Monat mit morgens um 5 Uhr aufstehen sind 300 Euro“, argumentiert Palmer im RNZ-Talk. „Das wirkt sich auch auf die Migrationsdebatte aus und hat unmittelbare Konsequenzen am Arbeitsmarkt“, so der Ex-Grünen-Politiker. Es gebe schlicht keinen Arbeitsanreiz. Da gerate etwas in der Gesellschaft in Schieflage.
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Studien und Statistiken zum Bürgergeld: „Arbeit führt immer zu höheren Einkommen als Nichtstun“
Die Bürgergeld-Debatte wird oftmals emotional geführt. Ist der Abstand zwischen Mindestlohn und Bürgergeld zu gering, lohnt sich die Arbeit in gering bezahlten Jobs kaum mehr, so eine gängige Befürchtung. Passend dazu war Ende vergangenen Jahres eine Umfrage in der Reinigungsbranche erschienen und viel diskutiert worden. Demnach befürchteten Reinigungsunternehmen, dass die Grundsicherung zunehmend in Konkurrenz zur Lohnarbeit treten könnte und sie daher keine Arbeitskräfte mehr fänden. Doch stimmt das? Hier lohnt ein nüchterner Blick auf die Zahlen.
Der Wirtschaftswissenschaftler Enzo Weber warf hierzu einen Blick auf die Statistiken. Dort sei seit Einführung des Bürgergelds „überhaupt keine Änderung ersichtlich. Eine Flucht aus Beschäftigung sieht anders aus“, so der Forscher. „Die von manchen Politikern aufgestellte Behauptung, wer nur Sozialleistungen beziehe, bekomme netto mehr als ein Geringverdiener, ist schlicht falsch“, ergab auch eine Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts ifo. „Arbeit führt in Deutschland immer zu höheren Einkommen als Nichtstun“, so die Forscher. Voraussetzung dafür sei aber, dass Geringverdiener die Möglichkeit der Aufstockung ihres Einkommens durch zusätzliche Sozialleistungen beantragen, so das Institut.
Aus Sicht der Wissenschaft: Das sind die aktuellen Probleme auf dem deutschen Arbeitsmarkt
Probleme auf dem Arbeitsmarkt sieht Wirtschaftswissenschaftler Weber durchaus, doch das Bürgergeld sei keines davon. Vielmehr mache der Bundesrepublik der enorme Fachkräftemangel zu schaffen. Zudem erkennt der Wissenschaftler eine Verfestigung der Arbeitslosigkeit. Langzeitarbeitslosigkeit sei durchaus ein Problem, da Arbeitserfahrung veralte, was sich wiederum auf die Motivation auswirken könnte.
Ansetzen würde der Forscher aber nicht am Bürgergeld, sondern an der Niedriglohnbranche. Von der Bundesregierung fordert er daher eine „engagierte Politik für Qualifizierung“. Denn statistisch gesehen liegt die Arbeitslosigkeit von qualifizierten Arbeitskräften niedriger als vor Corona, während Menschen ohne Berufsabschluss häufiger arbeitslos sind.