Echte Abenteuer statt Freizeitpark – was Kinder wirklich stark macht

Als wir im Rahmen einer größeren Untersuchung Kinder und Jugendliche zu dem Thema „Abenteuer“ befragten, gaben 98 % von ihnen an, dass diese eine hohe Bedeutung für sie hätten. Auf die Nachfrage, was sie denn so sehr daran reize, kam in verschiedenen Varianten die Antwort „weil sie so spannend sind, so gefährlich, weil sie in fremde Welten führen, wo starke und kluge Menschen für das Gute kämpfen und das Böse besiegen“. Bei den immer konkreter werdenden Zusatzfragen kristallisierte sich heraus, über welchen Abenteuerbegriff heutige Kinder noch verfügen.

Die Mehrzahl der genannten „abenteuerlichen Erlebnisse“ verband sich -je nach Alter der Kinder- mit von erwachsenen Buchautoren und Filmemachern erfundenen Fantasiefiguren, wie sie sich etwa in den Astrid-Lindgren-Romanen oder den Harry-Potter-Geschichten und entsprechenden Filmen finden. 

Auf die praktischen Eigenerfahrungen mit Abenteuern angesprochen, rückten die großen Vergnügungsparks mit ihren Geisterbahnen, Freefall-Towern, Achterbahnen in den Fokus. Es stellte sich die Frage, inwieweit heutige Kinder überhaupt noch mit „echten“ eigenen Abenteuern in Berührung kommen.

Prof. Dr. Siegbert Warwitz ist Germanist, Sportwissenschaftler und Experimentalpsychologe. Seine Forschung fokussiert sich auf menschliche Entwicklung, beeinflusst von Spiel und Risiko in Bildungsprozessen. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.

Was ist eigentlich ein „echtes“ Abenteuer?

Der Begriff entstammt der epischen Dichtung des Hochmittelalters. „Âventiure“ stand für den Auszug des angehenden jungen Ritters aus der umfriedeten elterlichen Burg in die Gefahren, Irrungen und Wirrungen der Außenwelt. Hier sollte und musste er sich, weitestgehend auf sich selbst und zufällig begegnende gute und schlechte Ratgeber gestellt, zurechtfinden. 

In dieser ungeschützten realen Welt, musste er sich bewähren, bedrängten Menschen zur Hilfe kommen, Bösewichtern das Handwerk legen, dem Guten mit Mut und Tapferkeit zum Sieg verhelfen. Das Abenteuer war ein Weg, die Welt besser zu machen und zu sich selbst zu finden. Dieser Weg musste hart erarbeitet werden. 

Er war mit hohem persönlichem Einsatz, Gefahren und Möglichkeiten des Scheiterns verbunden, sollte schließlich aber zu einer gereiften Persönlichkeit führen. Der Aufbruch in die Âventiure war eine idealistisch verklärte, erzieherisch gedachte Bildungsreise. Die Figur Parzival des Wolfram von Eschenbach war eine Galionsfigur solch eines hochwertigen Bildungsgangs.

Abenteuer als Unterhaltung

Die heutige Vorstellung von Abenteuer unterliegt mit Bezeichnungen wie „abenteuerlich“ oder „Abenteurertum“ oft einer Abwertung. Andererseits ist der „Reiz des Abenteuers“ als Spannung versprechendes Erleben ungebrochen, sodass sich die Werbeindustrie des Zauberworts reichlich und inflationär bedient. 

Es wird als verlockendes „Leseabenteuer“ in Buchtiteln, als erotisches „Liebesabenteuer“ in Filmangeboten, als Magnet für wohlumsorgte „Abenteuerreisen“, „Expeditionen“ genannt, versprochen. „Weltenbummler“ beeindrucken durch ihre wagemutigen Erlebnisse. Man kann aus sicherer Distanz an ihren Abenteuern teilhaben, ohne sich selbst zu gefährden. 

Das Abenteuerbedürfnis wird in Form eines sicheren Konsumguts befriedigt, als Nervenkitzel, der keinen persönlichen Einsatz erfordert und keine negativen Folgen befürchten lässt. Gleiches gilt für die TÜV-geprüften risikoentschärften „Abenteuerspielplätze“, „Robinsonspielpätze“ oder die beliebten Vergnügungsparks. Die Kinder werden beruhigt der Veranstalterverantwortung anvertraut. Sie werden im Sinne des „Safety-first-Anspruchs“ vieler Eltern sicher „be-abenteuert“.

Abenteuer als Bildungsimpuls

Die hohe Motivationswirkung des Zauberworts Abenteuer nutzt aber auch die moderne Didaktik im Unterrichts- und Erziehungsgeschehen, – etwa unter dem Stichwort „Abenteuer Lernen“.

Im Unterschied zum „Konsumabenteuer“ stellt das erzieherisch wirksame Bildungsabenteuer Ansprüche an die Eigeninitiative, die Risikobereitschaft, die Frustrationstoleranz, die Eigenverantwortung, die Bereitschaft, Konsequenzen für Fehlentscheidungen und Fehlverhalten selbst zu tragen und produktiv zu verarbeiten. Das echte Abenteuer bietet Bewährungsproben, Nachweise für das Selbstständigwerden. Es dokumentiert einen erreichten Leistungsstand.

Das Kind soll und will von einer Person zu einer Persönlichkeit werden. Neugier, Spieltrieb, Spannungssuche, Erlebnishunger, Entdeckerfreude sind die ihm dazu von Natur aus mitgegebenen Antriebskräfte. Sie führen geradezu zwingend in das „Abenteuer Lernen“. Das Kind will stolz sein auf eine neue, vielleicht über eine Mutprobe, eine Prüfung, gewonnene Leistung. Es hat seine Angst besiegt, eine gefährliche Aufgabe gemeistert, sich einer schwierigen Anforderung gewachsen gezeigt. Das ist der Weg zum reifen Erwachsenwerden.

Guter Unterricht lebt vom Abenteuer

Jedes Kind muss die Welt und seine eigene Zukunft selbst entdecken dürfen. Schule und Erziehung, die erfolgreich sein wollen, dürfen diese Bestrebung nach Autonomie, etwa aus Angst vor Schädigungen, nicht behindern oder blockieren. 

Erziehung muss im Gegenteil Raum geben zum Explorieren, selbst wenn der eingeschlagene Weg des Suchenden Risiken birgt und Zeit kostet. Unterricht muss Eigeninitiative und Entdeckerfreude zulassen, sogar anregen und fördern. Er muss neugierig machen und darf das Lerninteresse nicht durch zu enge Vorgaben von Lernstoff, reine Aneignungsprozesse und Kontrollen zu kanalisieren versuchen. 

Übermäßige Steuerung des Lernens lähmt den natürlichen Lernwillen. Guter Unterricht schafft vielfältige Lernanreize, aber gängelt nicht. Das offene Leben stellt die entscheidenden Fragen und Aufgaben, die es zu bewältigen gilt: Vor was fürchte ich mich, und wie kann ich diese Situationen meistern? Was interessiert mich, und wie kann ich mich in meinem Interessenshorizont sinnvoll einbringen und bewähren?

Resumeé

Das hohe Anspruchsniveau des „Bildungsabenteuers“ sollte nicht dazu verführen, dem „Unterhaltungsabenteuer“ jede gesellschaftliche Bedeutung abzusprechen. Auch das konsumtive Abenteuer hat eine wichtige Funktion. Es ermöglicht einen kurzzeitigen Ausstieg aus der Eintönigkeit des Alltags, eine Belebung der Lebensgeister, eine anregende Freizeitgestaltung mit der Gelegenheit zum Genuss von Eustress.

Das originale Abenteuer aber führt aus der Komfortzone des Bequemen heraus und ist nicht wohlfeil zu haben. Es findet im realen Leben statt und verlangt Eigeninitiative, Aktivierung der eigenen Kräfte, Anstrengung und Wagemut. Leidensbereitschaft und Frustrationstoleranz können gefragt sein. 

Es handelt sich um einen selbst verantworteten Aufbruch in fremde, noch unbekannte Welten, die Welt des eigenen Körpers, der psychischen Fähigkeiten, der Sprache oder Natur. Der Einsatz aber belohnt durch den berechtigten Stolz auf selbst erarbeitete Erkenntnisse. Wagnis weist den Weg zu einer autonomen Persönlichkeit. Dieser Weg der Selbststeuerung der eigenen Entwicklung steht jedem offen und ist in kleinen Schritten erlernbar.

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    Bildquelle: Siegbert Warwitz

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