Was ein Übermaß an Garten-Weihnachtsdeko über uns verrät

Warum eskaliert die Weihnachtsdeko dieses Jahr so früh und so heftig? Schon am ersten Advent ist uns klar: Zurückhaltung war gestern. Statt „still und heimlich“ heißt es jetzt „hell und stroboskopartig“. Viele Menschen dekorieren, als ginge es um die Qualifikation für den Eurovision Song Contest der Gartengestaltung. 

Zweieinhalb Meter große Schneemänner stehen auf Rasenflächen wie beleuchtete Mahnmale gegen dezente Ästhetik. Und irgendwo im Hintergrund: ein Dauergebläse, das einen aufblasbaren Schlitten am Leben erhält. Keine Ironie – ohne Strom wäre er nur traurige Folie im Matsch.

Unterm Strich: Es wird nicht dekoriert, es wird markiert. Und zwar flächendeckend.

Haben diese XXL-Dekowelten etwas mit Geschmack zu tun? Die kurze Antwort: Nein. Die lange: Auch nicht wirklich. Statt Harmonie herrscht hier das Motto: „Nimm alles, was leuchtet – wir kriegen das schon unter.“ Rentiere in Neonpink, Santa mit LED-Bauch, Lichterketten in der Menge eines mittelgroßen Flughafenfestivals.

Schönheit ist nicht das Ziel. Wirkung schon. In vielen Vorgärten verschwimmt die Grenze zwischen Weihnachtszauber und optischer Körperverletzung.

Aber: Niemand tut es böse. Es ist fast liebevoll falsch. So wie Kuchen, der schrecklich aussieht, aber mit echter Begeisterung gebacken wurde.

Welche psychologischen Bedürfnisse stecken dahinter? Wir leben in Zeiten, die sich eher nach Dezember anfühlen als nach „Oh du fröhliche“. Viele suchen Trost – und Trost darf laut sein. Dekoration wird zum emotionalen Pflaster: bunt, blinkend, überdimensioniert. Diese Lichter – egal wie schmerzhaft grell – vermitteln Kontrolle, Wärme und das Gefühl, wenigstens ein kleines Stück Welt selbst gestalten zu können.

Wer sein Haus beleuchtet wie den Times Square, sendet auch eine Botschaft: „Hier wohnt jemand, der versucht, fröhlich zu bleiben.“ Ein Lichterketten-Grinsen gegen Krisenstimmung.

Spielt der Wunsch nach Individualität eine Rolle? Absolut. In einer Welt, in der viele Autos, Küchen und Lebensläufe gleich aussehen, bietet äußere Übertreibung innere Unverwechselbarkeit. Der Vorgarten wird Bühne, Statement und Selbstbehauptung. Perfekt ist langweilig. Sichtbarkeit dagegen ein Lebenszeichen. Manche Menschen wollen bewusst auffallen – andere wollen nur, dass jemand hinsieht.

Seien wir ehrlich: Ein lachender Föhn-Weihnachtsmann mit 180 Zentimetern Körperhöhe bleibt nicht unbemerkt. Er ist das „Ich bin noch da“ der Dekokultur.

Welche Rolle spielt die Nachbarschaft – und Rücksichtnahme? Die Antwort hängt davon ab, ob man im beleuchteten Haus sitzt – oder gegenüber. Wer dekoriert, fühlt festliche Magie. Wer daneben wohnt, eher Migräne und das Bedürfnis nach Verdunkelungsrollos mit militärischer Effektivität.

So etwas nennt man „emotionalen Zielkonflikt“: Der eine erfüllt sich Hygge-Ästhetik – der andere googelt „Wie viele Lumen sind eigentlich legal?“. Trotzdem halten viele still. Warum? Weil Widerstand gegen Weihnachtsdeko fast so tabu ist wie Kritik an Kinderbildern. Man schweigt – und schiebt die Möbel um.

Müssen wir diese Entwicklung ernst nehmen – oder einfach schmunzeln? Ehrlich? Beides. Die Vorgarten-Illuminationen sind übertrieben, schrill und manchmal visuell grenzwertig – aber sie sind auch Zeichen menschlicher Sehnsucht nach Hoffnung. Hinter jedem blinkenden Rentier steckt jemand, der gerade versucht, Freude zu erzeugen. Für sich, für Kinder, für irgendwen.

Auch wenn es manchmal wirkt wie „Weihnachten unter Strom“ – es zeigt: Die Menschen haben den Wunsch nach Wärme, Menschlichkeit und Licht nicht verloren. Vielleicht ist es übertrieben. Vielleicht ist es laut. Aber es ist auch: lebendig.

Christoph Maria Michalski, bekannt als „Der Konfliktnavigator“, ist ein angesehener Streit- und Führungsexperte. Mit klarem Blick auf Lösungen, ordnet er gesellschaftliche, politische und persönliche Konflikte verständlich ein. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.