Was wir täglich essen, ist weit mehr als bloße Energiezufuhr. Jeder Nährstoff sendet molekulare Signale an unsere Zellen – Signale, die das Ablesen unserer Gene beeinflussen. Die noch junge Wissenschaft der Nutrigenomik untersucht genau diese Wechselwirkungen zwischen Ernährung und Erbgut. Sie zeigt: Essen ist Kommunikation, ein ständiger Dialog zwischen Umwelt und Genen.
Im Zentrum steht die Erkenntnis, dass unsere Nahrung auf die fein abgestimmte Maschinerie der Genregulation wirkt. Sie kann die Aktivität bestimmter Gene erhöhen oder senken – ohne dass sich die DNA selbst verändert. So wird Ernährung zu einem Schlüsselfaktor für die Gesundheit, lange bevor Krankheiten überhaupt entstehen.
Prof. Dr. Klaus Günther, Lebensmittelwissenschaftler und Biochemiker, forscht und lehrt an der Universität Bonn zu Mikronährstoffen und innovativer Ernährungsforschung und ist international als Honorarprofessor und Gutachter tätig. Er ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen seine persönliche Auffassung auf Basis seiner individuellen Expertise dar.
Wir sind nicht Opfer unserer Gene
Zwar bleibt die genetische Grundausstattung unveränderlich, doch sie bestimmt keineswegs unser Schicksal. Entscheidend ist, wie „zugänglich“ unsere Gene sind – also ob sie abgelesen werden oder nicht. Diese Steuerung übernimmt das Epigenom, eine Art molekulares Gedächtnis, das sich durch Ernährung, Bewegung und Umweltreize verändern kann.
Die Forschung zeigt: Etwa 80 Prozent der häufigsten chronischen Krankheiten wie Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Fettleibigkeit beruhen nicht primär auf Mutationen, sondern auf epigenetischen Veränderungen. Und diese lassen sich positiv beeinflussen. Ein gesunder Lebensstil, der das Epigenom günstig moduliert, kann genetische Risiken abschwächen oder sogar ausgleichen.
Molekulare Schalter im Stoffwechsel
Viele Nahrungsbestandteile wirken direkt auf zelluläre Signalwege. Fettsäuren, Vitamine oder sekundäre Pflanzenstoffe können als Liganden für Transkriptionsfaktoren fungieren – sie schalten also Gene ein oder aus, die den Stoffwechsel steuern. Andere Nährstoffe werden erst nach biochemischer Umwandlung aktiv und verändern Enzyme, die den Energiestatus der Zellen messen.
Die Folge: Ernährung beeinflusst Prozesse wie Fettverbrennung, Entzündungshemmung, Zellwachstum oder Insulinsensitivität. Nutrigenomische Analysen versuchen, diese Effekte systematisch zu erfassen – oft über sogenannte „Omics“-Technologien, die Genaktivität, Proteine und Stoffwechselprodukte gleichzeitig messen. So entsteht ein detailliertes Bild, wie Essen molekular wirkt.
Personalisierte Ernährung – zwischen Vision und Realität
Die Idee einer „Gendiät“ – also Ernährungsempfehlungen, die perfekt zur eigenen DNA passen – fasziniert viele. Doch die Realität ist komplexer. Selbst groß angelegte genomweite Studien finden nur geringe Zusammenhänge zwischen genetischen Varianten und Merkmalen wie Körpergewicht oder Blutzucker. Ein einzelnes Gen erklärt kaum, warum Menschen unterschiedlich auf dieselbe Mahlzeit reagieren.
Dennoch markiert die Nutrigenomik den Beginn einer neuen Ära: der personalisierten Ernährung, die genetische, epigenetische und Lebensstilfaktoren kombiniert. In Zukunft könnten Ernährungsempfehlungen auf individuellen molekularen Profilen basieren – präziser und nachhaltiger als die pauschalen Ratschläge, die heute gelten.
Die Evolution unserer Ernährung
Über Jahrtausende war der menschliche Stoffwechsel auf eine karge, ballaststoffreiche Kost ausgerichtet. Erst die letzten 100 Jahre brachten einen drastischen Wandel: energiedichte, stark verarbeitete Lebensmittel, kombiniert mit Bewegungsmangel. Unser Körper, genetisch an das Leben der Jäger und Sammler angepasst, ist für diesen Überfluss kaum gerüstet.
Hier setzt die Nutrigenomik an – sie erklärt, warum moderne Ernährungsmuster zu metabolischem Stress führen, Entzündungen fördern und die Genregulation durcheinanderbringen. Zugleich bietet sie Ansätze, wie eine Rückkehr zu ausgewogener, pflanzenbetonter Kost molekulare Schutzmechanismen wieder aktivieren kann.
Ernährung als Medizin der Zukunft
Die Grenzen zwischen Nahrung und Medizin beginnen zu verschwimmen. Wenn bestimmte Nährstoffe gezielt Gene aktivieren, die Entzündungen bremsen oder die Insulinwirkung verbessern, wird Essen selbst zum therapeutischen Werkzeug. Nutrigenomik verbindet damit Biochemie, Genetik und Präventionsmedizin – und eröffnet den Weg zu einer Gesundheitskultur, in der Ernährung zur wichtigsten Medizin wird.
Die Botschaft dieser Wissenschaft ist ermutigend: Unsere Gene sind keine starren Programme. Sie reagieren – Tag für Tag – auf das, was wir essen, trinken und wie wir leben. Die Nutrigenomik lehrt uns, diese Sprache zu verstehen und sie zum eigenen Vorteil zu nutzen.
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Bildquelle: Klaus Günther
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