Warum darf der Weihnachtsmarkt-Attentäter ständig seine Verschwörungswelt offenlegen?

Für Taleb al Abdulmohsen ist der extra aufgebaute Gerichtssaal die Bühne, die er sich immer gewünscht hat. Immer wieder erhält der Amokfahrer die Gelegenheit, tiefe Einblicke in seine offenkundig verzerrte Realität zu geben. Der Vorsitzende Richter, Dirk Sternberg, lässt den Angeklagten immer wieder gewähren. Drei, vier Anläufe gewährt der Verhandlungsleiter dem 51-Jährigen, bis er ihm endgültig das Mikrofon abdreht.

Im Gericht führt das immer wieder zu Unmut: Hie ein Stöhnen, da ein Seufzen oder ein ungläubiges Lächeln im Zuschauer- und Pressebereich. Jüngst ergriff auch ein Nebenklageanwalt das Wort und bat Sternberg, seine Rolle mit mehr Vehemenz auszufüllen; allerdings war das kein formeller Antrag, wie das Gericht auf Nachfrage klarstellt.

Al Abdulmohsen hat bereits gestanden

Doch warum der ganze Aufwand und die Bühne, wenn die Sache ganz klar ist? Bereits zum Prozessauftakt hat al Abdulmohsen seine Tat gestanden, durfte Einblick in sein verworrenes Weltbild geben. In einer atemberaubenden Ruhe referiert er, dass er sechs Menschen getötet und mehr als 300 verletzt hat. Sein Tonfall klingt, als würde er nach einem Streit erklären, warum er den Teller auf den Boden gefeuert hat. Frei nach dem Motto: dumm gelaufen, ist jetzt halt so. Ein Hohn für alle Magdeburger, insbesondere die Opfer und Zeugen dieser grausamen Amokfahrt.

Sternbergs Geduld mit al Abdulmohsen hat jedoch einen einfachen Grund. „Das Gericht hat den Sachverhalt, unter anderem die Motive des Angeklagten, umfassend von Amts wegen aufzuklären, um ein Urteil fällen zu können“, erklärt Gerichtssprecher Christian Löffler auf Nachfrage von FOCUS online. Dem Vorsitzenden der Hauptverhandlung spricht die Strafprozessordnung weitreichende Befugnisse zu, um das zu gewährleisten: „Er eröffnet die Verhandlung, erteilt das Wort und kann es entziehen. Seine Rolle ist entscheidend für den Ablauf.“

Der Angeklagte Taleb al-Abdulmohsen sitzt mit Handfesseln in dem kugelsicheren Glaskasten Gerichtssaal im temporären Gerichtsgebäude des Landgerichtes Magdeburg.
Der Angeklagte Taleb al-Abdulmohsen sitzt mit Handfesseln in dem kugelsicheren Glaskasten Gerichtssaal im temporären Gerichtsgebäude des Landgerichtes Magdeburg. dpa

Strafprozessordnung schreibt vor, dass Angeklagter Fragerecht bei Zeugen genießt

Im Gegensatz zu Zuschauern und Medien können Verfahrensbeteiligte die Anordnungen der Vorsitzenden beanstanden, sodass das Gericht entscheiden muss. Wie im Falle der Kritik des Nebenklageanwalts ist das bisher aber kaum förmlich passiert.

Ebenjene Strafprozessordnung schreibt auch vor, dass der Angeklagte ein Fragerecht bei den Zeugen genießt; vorausgesetzt, die Fragen sind zulässig. Für Sternberg war das insbesondere am Dienstag eine Gratwanderung: Auf der einen Seite das Recht für den Angeklagten. Auf der anderen Seite dessen offenkundige Bemühung, damit einen eigenen Gerichtsprozess etwa gegen den Kölner Verein zu führen. Unter anderem mit seinem über Jahre gewachsenen Hass auf diese Organisation begründet al Abulmohsen seine Amokfahrt. Dadurch wird die Vorgeschichte auch mit Blick auf die Motive für die Tat relevant, die das Gericht aufklären muss.

Auch wenn das für die Prozessbeteiligten und Beobachter manchmal schwer auszuhalten sein mag, spricht der Leitungsstil doch für den Vorsitzenden Richter: Ihm gelingt es immer wieder, den Angeklagten aus seiner Verschwörungswelt zurückzuholen und über die realen Ereignisse zu sprechen. In den Ausschweifungen des Angeklagten fördert Sternberg durch seine Moderation immer wieder Details zutage, die für das Urteil relevant sein könnten.

Polizisten ringen Attentäter im Gericht zu Boden

Wenn es sein muss, greift das Gericht auch resolut durch, wie sich am Dienstag gezeigt hat. Als al Abdulmohsen aufsteht und offenbar Richtung Tür gehen will, ringen ihn sofort Sitzungspolizisten zu Boden. „Der Angeklagte hat eine Pflicht zur Anwesenheit, § 231 StPO, und auf seinem Platz zu sitzen. Versucht er, sich unerlaubt zu entfernen, kann dies unter Anwendung von unmittelbarem Zwang verhindert werden. Die Sitzungspolizei übt unmittelbar Zwang aus, um die Ordnung in Gerichtsverhandlungen aufrechtzuerhalten“, erklärt Gerichtssprecher Löffler das Vorgehen. Selbst im Anschluss an die Unterbrechung gelang es Sternberg, den Verhandlungstag noch zu einem geordneten Abschluss zu bringen.

An dem großen Demokratie-Dilemma, das der Fall offenlegt, kann die Strafprozessordnung allerdings nichts ändern. Denn mit dem Prozess hat al Abdulmohsen sein Ziel erreicht: Durch die Amokfahrt erhält er die Bühne, die er sich die ganze Zeit gewünscht hat – und die ihm so lange verwehrt war. Die lässt sich kaum nehmen, ohne am Fundament der Rechtsstaatlichkeit zu rütteln.

Umso wichtiger ist es, seine Aussagen und die genannten Motive einzuordnen – und der Ideologie dahinter keinen Platz zu geben. Nur in seiner Scheinwelt mit offenbar herbeifantasierten Personen und Ereignissen ist al Abdulmohsen der Märtyrer, der Deutschland aufrüttelt und vor einer angeblichen Islamisierung warnt. Für den Rest bleibt er ein Amokfahrer, der sechs Menschen getötet und mehr als 300 Menschen verletzt hat. Ein grausamer Mörder mit einer wirren und unlogischen Gedankenwelt.