Nicht nur Soldaten, auch die zivile Bevölkerung Russlands spürt den Krieg: Drohnenangriffe, gestörte GPS-Signale, eingeschränktes Social Media und fehlende Waren aus dem Westen. Trotzdem habe sich der Alltag der meisten Russen kaum verändert. Das sagt der russische Soziologe Oleg Zhurawlew gegenüber der „Welt“. Er weiß, warum viele Russen trotz des Krieges noch immer loyal gegenüber ihrem Präsidenten sind. Er weiß aber auch, wann diese Loyalität kippen könnte.
Vor allem Soldaten-Familien, Rüstungsarbeiter und Orte mit militärischer Präsenz profitieren demnach von dem Krieg, den Russland seit vier Jahren gegen die Ukraine führt. So sind etwa die Gehälter von Soldaten gestiegen. Die russische Wirtschaft hat auf Kriegswirtschaft umgestellt und selbst der Tourismus-Industrie nützt der Krieg, erklärt Zhurawlew. Denn da Russen kaum noch ins Ausland dürfen, reisen sie durch ihre Heimat und entdecken sie neu. Dadurch steige der innerrussische Tourismus und der Patriotismus massiv an, sagt der Soziologe.
Russische Bevölkerung und Kriegsalltag – Loyalität trotz Einschränkungen
Die Toten und Verletzten von der Front sind für viele Russen noch weit weg. Die Folge: Laut dem Lewada-Meinungsforschungsinstitut würden aktuell 85 Prozent der Russen Wladimir Putin unterstützen.
Zhurawlew schätzt die Zahl zwar niedriger ein. Dennoch halte aus seiner Sicht rund 50 Prozent zu Putin. Die Russen würden Putin und seiner Politik zwar nicht unbedingt explizit zustimmen, aber loyal sein. Für den Soziologen Zhurawlew ist das ein großer Unterschied. In der Wissenschaft sei von einer "performativen Legitimität" die Rede. Dabei wird das Regierungshandeln vor allem aufgrund von wirtschaftlichem Wachstum gerechtfertigt.
Putin-Paradox: "Wenn er weg ist, könnte es noch schlimmer werden"
Dass die russische Bevölkerung ihrer Regierung treu ist, liege insbesondere am wirtschaftlichen Aufschwung in den frühen Kriegsjahren, am Zusammenhalt in dieser schweren Zeit und an der Alternativlosigkeit. Das paradox anmutende Gefühl der Russen gegenüber Putin beschreibt Zhurawlew so: „Wer außer ihm könnte den Krieg beenden? Wenn Putin weg ist, könnte es noch schlimmer werden." Der Westen als Gegner und die verhängten Sanktionen verstärken demnach die Loyalität.
Damit Proteste in der russischen Bevölkerung hochkochen können, braucht es laut Zhurawlew politische Mobilisierung, weniger staatliche Unterdrückung und die Hoffnung, dass diese Proteste überhaupt erfolgreich sein könnten. Selbst beim Protestmarsch von Jewgeni Prigoschin vor zwei Jahren schwieg die Bevölkerung größtenteils. Für Zhurawlew ein gutes Beispiel: „Die Bevölkerung ging damals nicht für ihn auf die Straße – aber sie ging eben auch nicht für Putin auf die Straße. Niemand ging auf die Straße.“