Im Mai 1937 kehrt ein junger Mann von einer zweijährigen Reise nach Deutschland zurück und wird wie ein Held empfangen. Er hat, gemeinsam mit einem Begleiter im südamerikanischen Urwald eine bis dahin weitgehend unbekannte Region unter großen Strapazen bereist und erforscht.
Er bringt von dort 500 ausgestopfte Säugetiere wie Tapire, Affen und Jaguare und mehrere hundert Amphibien mit, dazu Felle, Schädel und Skelette. Insgesamt hat der Heimkehrer rund 1500 Objekte im Gepäck, von denen heute noch einige in der zoologischen Sammlung der Berliner Humboldt-Universität zu sehen sind.
„Rätsel der Urwaldhölle“
Zusätzlich hat er Objekte der fast völlig unbekannten menschlichen Zivilisation gesammelt: Pfeile, Keramik, Köcher, Bogen, Lanzen, Keulen, Zaubergeräte, Flöten – nochmals insgesamt 1200 Objekte. Und nicht zuletzt hat er 2700 Meter 16-mm-Film sowie rund 2500 Fotos mit nach Hause gebracht.
Der junge Mann hat, mit Unterstützung des deutschen Luftfahrtministers Hermann Göring und mehrerer großer deutscher Industrieunternehmen, zwei Jahre lang die Gebiete der drei damals als Kolonialgebiete existierenden Guayanas in Südamerika – also Französisch-, Niederländisch- und Britisch-Guayana, bereist und diese unbekannte Welt erforscht. Der Name des jungen Mannes, der gerade einmal 26 Jahre alt ist, lautet: Otto Schulz-Kampfhenkel.
Er ist nicht nur ein abenteuerlustiger, wagemutiger und erfolgreicher Naturforscher, sondern hat auch ein Gespür für die Vermarktungsmöglichkeiten, die ihm seine Entdeckungen, Filmaufnahmen und Fotos ermöglichen.
Sofort nach seiner Rückkehr produziert er für die Filmgesellschaft Ufa einen Film mit dem Titel „Rätsel der Urwaldhölle“, der Anfang 1938 in die Kinos kommt und ein großer Kassenschlager wird. Er schiebt bald auch ein Buch nach, das sich binnen kurzer Zeit mehr als 100.000-mal verkauft.
Deutschland gilt den Nazis als „Volk ohne Raum“
Allerdings erzählt er im Buch und im Film nicht alles über seine lange und ertragreiche Forschungsreise. Denn ihm ist in langen einsamen Nächten im Urwald eine Idee gekommen, die er nicht dem großen Publikum unterbreitet, sondern ganz im Geheimen einem besonderen Mann: Heinrich Himmler, seines Zeichens mächtiger Chef der SS.
Und ein Mann, der schon mehrmals Expeditionen an entfernte Regionen finanziert hat – zum Beispiel in der Hoffnung, die Wurzeln des „Ariers“ zu finden. Himmler ist einer, der ganz groß denkt, glaubt Schulz-Kampfhenkel.
Also scheint er der richtige Ansprechpartner zu sein. Deutschland gilt den Nazis als „Volk ohne Raum“. Noch ist die riesige Sowjetunion allgemein nicht im Visier der breiten Öffentlichkeit, die sich nicht vorstellen kann, dass der „Führer“ Adolf Hitler sie bald schon angreifen wird (seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs ist sie sogar zunächst Deutschlands Verbündeter).
Sie fällt also für Expansionspläne und die Schaffung neuer Siedlungsgebiete scheinbar aus. Wo aber soll dann der „Raum“, den das deutsche Volk doch so dringend benötige, herkommen?
Einmal quer durch den Dschungel
Mitten im südamerikanischen Dschungel hat Schulz-Kampfhenkel 1937 eine Idee, wo der der perfekte „Raum“ wäre: genau hier. Er entwirft das von ihm selbst so genannte „Guayana-Projekt“ – ein skurriler Plan für die Eroberung der drei Guayanas durch ein deutsches Expeditionskorps, das an den endlos langen Stränden Brasiliens landen und sich quer durch den Regenwald bis zum Ziel durchschlagen werden.
Hier soll ein deutscher Siedlungsraum mitten im Urwald Südamerikas entstehen. Die brasilianische Regierung, die Hitler und den italienischen faschistischen Duce Benito Mussolini wohlwollend gegenüber steht, werde keine Probleme bereiten, glaubt er.
Allerdings dauert es noch drei Jahre, bis Schulz-Kampfhenkel der SS seine Idee unterbreitet. Er tritt 1939 in die SS ein und arbeitet in einem Institut für Wehrforschung. Seine Art, Fotos aus der Luft für Zwecke der Kartographierung zu machen, erweckt nach dem Beginn des Krieges das Interesse der Militärs.
Ein lästiger Konkurrent
Der Anstoß, das Guayana-Projekt“ offiziell bei Himmler vorzutragen, kommt dann 1940 – aus der Sicht Schulz-Kampfhenkels sehr ärgerlich – zunächst von einem anderen.
Als der bekannte Autor von Western-Romanen Heinrich Peskollar, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Tex Harding, mit einer ähnlichen Idee an Himmler herantritt, wird Schulz-Kampfhenkel mit der Beurteilung betraut. Es gelingt ihm, die Idee intern zu propagieren, den lästigen Konkurrenten aber weitgehend kaltzustellen.
Schulz-Kampfhenkel stellt seine Idee, die drei Guayanas für Deutschland zu annektieren, in den ganz großen Zusammenhang der Nazi-Ideologie. „Die beiden größten bevölkerungsarmen und hervorragend nutzbaren Reserveräume der Erde sind Sibirien und Südamerika“, doziert er.
Sie kämen „als großräumige Einwanderungs- und Siedlungsländer für ein nordisches Herrenvolk in Betracht“. Afrika und Asien könnten dagegen nur „zusätzliche Ausbeutungskolonien für tropische Rohstoffe liefern“.
Russland als „Kontinentaldegen Europas“
Das Problem in Schulz-Kamphenkels Sicht: Sibirien drohe an China zu fallen und falle damit als deutsches Siedlungsgebiet aus. Russland müsse Hitler als „Kontinentaldegen Europas“ gegen „Ostasien“ nutzen.
Da aber aus diesem Grund die deutsch-russische Freundschaft noch lange währen werde, bleibe Sibirien als „siedlungspolitisches koloniales Expansionsgebiet“ für Deutschland verschlossen.
Daher verbleibe für das „Volk ohne Raum“ nur ein Siedlungsgebiet: Südamerika. Immerhin lebten dort bereits eine Million Deutsche. Schulz-Kampfhenkel malt für den sehr interessierten Heinrich Himmler die Zukunft etwas kompliziert, aber rosig aus:
„Bei wachsender Bevölkerungszahl der Erde kann ein derart naturbegünstigter, dabei unterbevölkerter, von Patagonien bis zur Südgrenze Amazoniens für die höheren weißen Völker hervorragend bewohnbarer, von Amazonien bis Kolumbien ebenso hervorragend als tropische Ausbeutungskolonie nutzbarer Erdteil nicht im Besitz der rassisch wie zivilisatorisch an Deutschland oder England gemessen geradezu unterwertigen Völker bleiben, die ihn heute beherrschen, ohne ihn zu erfüllen.“
Hitler greift 1941 die Sowjetunion an
Südamerika soll also deutsches Siedlungsgebiet werden und dem Dritten Reich dringend benötige Rohstoffe liefern. Obwohl Heinrich Himmler den Vorschlag interessant findet, legt er ihn dennoch zunächst auf Eis. Denn er kommt zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt.
Im Frühjahr und Frühsommer 1940, als er Schulz-Kampfhenkels Plan auf dem Schreibtisch liegen hat, ringt die deutsche Wehrmacht in einem „Blitzkrieg“ gerade Frankreich nieder. Die neue französische Regierung, die nur noch für eine unbesetzte Zone zuständig und äußerst deutsch-hörig ist, stellt kein Hindernis dar, so dass Französisch-Guayana zunächst faktisch unter deutscher Kontrolle ist.
Dann greift Hitler im Juni 1941 die Sowjetunion an, die damit nicht mehr als Deutschlands „Kontinentaldegen“ gegen China wirken kann, sondern nun der Hauptfeind ist. 1942 schließlich erklärt die brasilianische Regierung Deutschland den Krieg. Von ihrer Freundschaft zu Hitler will sie nun, da sich das Kriegsgeschehen allmählich gegen das Nazi-Reich wendet, nichts mehr wissen.
Wüste statt Dschungel
So hat das Guyana-Projekt keine Chance, durchgesetzt zu werden. Schulz-Kampfhenkel wird Chef einer Expedition nach Nordafrika, wo er im Auftrag der deutschen militärischen Abwehr von Admiral Wilhelm Canaris die Wüste erforscht, für den Fall, dass sich dort Kampfhandlungen mit den Alliierten entwickeln würden (was bekanntlich tatsächlich passiert und mit einer deutschen Niederlage endet). Der weitere Kriegsverlauf lässt dann keinen Platz mehr für seine kruden Ideen.
Nach dem Krieg wird Schulz-Kampfhenkel als ehemaliges SS-Mitglied von den Amerikaner interniert, dann aber „entnazifiziert“. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte wird er zu einem angesehenen Dokumentarfilmer und gründet 1962 das „Institut für Weltkunde in Bildung und Forschung“, das sich vor allem der Bildung von Schülern widmet.
Als er 1989 stirbt, ist es ihm längst gelungen, sein krudes „Guayana-Projekt“, das auf der Ideologie der „Herrenvolkes“ und der kolonialen Eroberungspläne der Nationalsozialisten aufbaute, vergessen zu machen.
Hanna Reitsch
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