Seinen eigenen Absturz sah „Hitlers Hofastrologe“ nicht voraus

Er ist sich ganz sicher, dass seine Berechnung stimmt. Und so greift Karl Ernst Krafft Anfang November 1939 zu Stift und Papier und verfasst einen Brief an einen Bekannten, der im Reichssicherheitshauptamt, der Terrorzentrale des Dritten Reiches, arbeitet. 

Aber dieser Bekannte, Karl Heinz Fersel, nimmt die Vorhersage Kraffts nicht ernst. Sie klingt für ihn zu phantastisch, denn der Briefschreiber und Astrologe sagt voraus, dass der „Führer“ in großer Gefahr sei. Zwischen dem 7. und dem 10. November werde es ein Bombenattentat auf Adolf Hitler geben.

Hitler bleibt bei Attentat unverletzt

Aber Kraffts Vorhersage stellt sich als wahr heraus. Tatsächlich verübt der Arbeiter Georg Elser am Abend des 9. November 1939, gut zwei Monate nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, ein Attentat mit einer Bombe auf Hitler. 

Der Sprengsatz geht hoch und es gibt Tote und Verletzte. Aber Hitler bleibt unverletzt, denn er verlässt früher als geplant den Ort des Geschehens, den Münchner Bürgerbräukeller.

Von der Vorhersage Kraffts hatte er keine Kenntnis. Das möchte der 39 Jahre alte Schweizer unbedingt ändern und so verfasst er erneut ein paar Zeilen, diesmal als Telegramm. Sein Adressat diesmal: Rudolf Hess, der „Stellvertreter des Führers“, mithin einer der ranghöchsten Männer des Dritten Reiches.

Verhaftung statt Belobigung

Das Ergebnis der Kontaktaufnahme ist allerdings ganz anders, als Krafft sich das gedacht hat, denn er wird von der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) verhaftet. Der Sicherheitsdienst fragt sich nicht zu Unrecht, wie ein Schweizer Bürger, der seit zwei Jahren in Deutschland lebt, ein Attentat vorhersagen kann, wenn er davon nicht mindestens Kenntnis hatte. Oder war er sogar in die Tat involviert?

Eine missliche Situation, in die sich Krafft selbst hineinmanövriert hat. Er lernt vermutlich die ganze Brutalität der NS-Ermittlungsbehörden kennen, denn es ist zu vermuten, dass er während der Verhöre gefoltert wird. Aber es gelingt der Gestapo nicht, irgendetwas aus ihm herauszupressen.

Das ist auch gar nicht möglich, denn Karl Ernst Krafft hat tatsächlich mit dem Attentat nichts zu tun. Es schafft es schließlich, auch die Gestapo von seiner Unschuld zu überzeugen. 

Nun werden andere auf ihn aufmerksam: Heß und SS-Chef Heinrich Himmler – beide sind Anhänger esoterischer Theorien und glauben, dieser Schweizer habe hellseherische Fähigkeiten. Und auch Propagandaminister Joseph Goebbels legt sein Augenmerk auf Krafft.

Frühes Interesse für die Astrologie

Krafft wird im Jahr 1900 in Basel als Spross eines wohlsituierten Elternhauses geboren. Sein Interesse an Astrologie wird früh erweckt. Er ist 19 Jahre alt, als seine Schwester stirbt und ihr Tod ist für die ganze Familie ein Anlass, sich mit Astrologie und Séancen zu beschäftigen. Aber keiner betreibt die Sache so ernst wie Karl Ernst. Er studiert zwar Fächer wie Mathematik, aber konzentriert sich immer stärker auf die Astrologie. 

Immerhin lässt sich damit der Lebensunterhalt verdienen. Zwischen 1926 und 1936 arbeitet er für den Schweizer Bankier Oscar Gruhl, in dessen Besitz auch das Warenhaus Globus und der bekannte Verlag Orell Füssli ist. Ohne Kraffts astrologische Beurteilung wird kein potenzieller Mitarbeiter eingestellt. Angeblich soll er oft mit seinen Beurteilungen richtig liegen.

Karl Ernst Krafft
Karl Ernst Krafft stammte aus einem wohlsituierten Elternhaus. IMAGO / Bridgeman Images

Zudem schreibt er Bücher und hält Vorträge. Unter anderen beschäftigt er sich mit der Frage, ob die Sterne bei der Geburt den späteren Beruf vorhersagen können. Nirgends steigt sein Bekanntheitsgrad so stark, wie im nationalsozialistischen Deutschland. 

Und schließlich siedelt er dorthin um, denn dem NS-Regime ist er ohnedies ideologisch zugetan. So kommt es auch, dass er schließlich das Attentat auf Hitler vorhersagt.

Nostradamus und „Großdeutschland“

Propagandaminister Joseph Goebbels glaubt zwar nicht an Astrologie, denn er hält so etwas schlicht für Quacksalberei. Aber er sieht eine andere Chance. Er will Krafft, der als Experte für den französischen Astrologen Nostradamus gilt, für seine Propagandazwecke nutzen. 

Er soll anhand von Nostradamus‘ Prophezeiungen den Sieg „Großdeutschlands“ im Krieg vorhersagen. Das, so hofft Goebbels, werde Eindruck sowohl beim deutschen Volk als auch bei den Gegnern machen. Mit der zweiten Einschätzung soll er sogar Recht behalten.

Krafft wird offiziell im „Deutschen Nachrichtenbüro“ als Übersetzer eingestellt. Seine tatsächliche Arbeit liegt aber im Deuten der Nostradamus-Texte. Das „Ergebnis“ ist wie gewünscht. Krafft „entdeckt“ eine „pro-deutsche Einstellung“ des Franzosen, der im 16. Jahrhundert gelebt hat. Er glaubt, in ihm einen „Propheten Großdeutschlands“ zu erkennen.

Auf der anderen Seite des Ärmelkanals bleibt die Tätigkeit des Schweizers in den Diensten der Nazis nicht unentdeckt. Der britische Geheimdienst MI 5 und die Special Operations Executive (SOE) glauben, Hitler habe sich einen persönlichen Hofastrologen engagiert – bis heute hat sich dieses Gerücht gehalten, obwohl es mit der Realität nichts zu tun hat.

Auch die Briten engagieren einen Astrologen

Daraufhin stellen die Briten ebenfalls einen selbsternannten Experten für die psychologische Kriegsführung ein. Dabei handelt es sich um den jüdischen, aus Deutschland 1935 emigrierten Schriftsteller Louis de Wohl. 

Seine Argumentation überzeugt die Briten: „Wenn ich dieselben Berechnungen aufstelle wie Hitlers Astrologe, dann weiß ich, was für einen Rat Hitler von diesem Manne bekommt, dessen Urteil er vertraut. Es ist nur logisch, dass das für die Briten von Vorteil ist.“

Eine kurze Weile läuft alles für Krafft nach Plan. Doch dann folgt der plötzliche Absturz. Als im Mai 1941 Rudolf Heß heimlich nach England fliegt, um mit der britischen Regierung auf eigene Faust und ohne Wissen Hitlers einen Frieden auszuhandeln, braucht die NS-Führung Sündenböcke. 

Heß wird als krank und verwirrt dargestellt und als Grund für diesen Zustand wird sein Faible für die Astrologie genannt. Das hat Folgen: Hunderte Astrologen in Deutschland werden kurz nach dem England-Flug verhaftet.

Die Hellseher sind blind

Goebbels, dem das ganze okkulte Treiben einiger hoher NS-Führer wie Himmler ein Dorn im Auge ist, freut sich. „Dieser obskure Schwindel wird nun endgültig ausgerottet“, notiert er in seinem Tagebuch. Und er spottet: „Sonderbarerweise hat nicht ein Hellseher vorhergesehen, dass er verhaftet wurde. Ein schlechtes Berufszeichen.“

Diess Schicksal der Verhaftung trifft auch Karl Ernst Krafft. Er wird am 11. Juni 1941 verhaftet und verschwindet für ein Jahr im Gefängnis. Seine Hoffnung, hochrangige Nazi-Funktionäre, mit denen er persönlich bekannt ist, würden ihm helfen, erfüllt sich nicht. Hitler ist wegen Heß‘ Aktion auf das höchste erregt – jeder fürchtet, sich in dieser Sache die Finger zu verbrennen.

1942 wird Krafft zwar entlassen, aber er kommt nicht in Freiheit. Er wird interniert und gezwungen, für das Propagandaministerium Horoskope von alliierten Staatsmännern und russischen Generälen zu erstellen. 

Krafft verabscheut diese Arbeit, denn für ihn handelt es sich um „Jahrmarktsastrologie“. Aber er muss gehorchen. Seine Frau bezeichnet diese erzwungene Tätigkeit später als „geistige Zwangsarbeit“.

Gefängnis und KZ

Und diese „Zwangsarbeit“ macht ihn krank. Nach einem Nervenzusammenbruch weigert er sich, weiterhin solche Horoskope zu erstellen. Er wird daraufhin wieder ins Gefängnis gesteckt. Hier erkrankt er erneut, diesmal an Typhus. Nach einer Weile wird er ins Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert, schließlich im November 1944 in das KZ Buchenwald.

Seine Frau fordert vom Schweizer Außenministerium, dass es sich für seine Freilassung einsetzt. Anfang Februar 1945 versichert das Ministerium, dass es sich bemühe, die Schweizer Häftlinge in Deutschland möglichst gut zu schützen.

Zu diesem Zeitpunkt ist Karl Ernst Krafft allerdings bereits seit ein paar Wochen tot. Er verstarb am 8. Januar. Sein Werdegang zeigt, dass ein Täter, der sich mit dem Teufel einlässt, auch zum Opfer werden kann.