Nicht jeder, der narzisstisch wirkt, ist einer: Ein Blick hinter die Maske

Vor einiger Zeit bat mich mein Kollege Michael Ehlers um Unterstützung in einem komplexen Fall. Ein bekannter Politiker stand im Kreuzfeuer. Interviews liefen aus dem Ruder, Social-Media-Kommentare eskalierten, und jede Aussage schien Öl ins Feuer zu gießen. 

Die Öffentlichkeit sah in ihm einen narzisstischen Selbstdarsteller. Doch Michael hatte Zweifel. Er fragte: „Was, wenn er gar kein Narzisst ist, sondern ein verletzter Empath? Kannst du das bitte prüfen?“

Chris Oeuvray ist psychologische Beraterin und Narzissmus-Expertin. In ihren Büchern wie „Du genügst“ zeigt sie Betroffenen toxischer Beziehungen Wege zu Selbstwert, Stärke und einem befreiten Leben. Sie ist Teil unseres EXPERTS Circle. Die Inhalte stellen ihre persönliche Auffassung auf Basis ihrer individuellen Expertise dar.

Wenn das starke Auftreten eine Schutzmauer ist

Schon im ersten Coaching-Gespräch zeigte sich: Dieser Mann war kein Machtmensch im klassischen Sinn. Sein Blick wich aus, sobald Kritik kam. Er sprach schnell, kontrolliert, überlegt und versuchte, jedes Risiko zu vermeiden. Dahinter lag keine Arroganz, sondern Unsicherheit.

Er hatte gelernt, Emotionen zu verstecken, weil sie ihm in der Politik Schwäche signalisierten. Doch sein System stand unter Dauerstress. Atem flach, Schultern hochgezogen, Stimme gepresst. Er sagte Sätze wie: „Ich darf mir keinen Fehler erlauben.“ Das ist kein Narzissmus. Das ist pure Angst.

Der entscheidende Unterschied: Reflexion statt Rechtfertigung

Ein echter Narzisst rechtfertigt sich, wenn etwas schiefgeht. Ein Co-Narzisst hingegen fragt: „Was habe ich getan, dass das passiert ist?“ Und genau das tat er.

In unserer Zusammenarbeit erkannte er, wie sehr er sich seit Jahren über Leistung definierte, und wie stark ihn das an seine Kindheit erinnerte. Narzisstische Eltern, emotionale Kälte, das stille Mantra: „Sei perfekt, dann wirst du geliebt.“

Diese innere Konditionierung prägt viele Empathen. Sie übernehmen Verantwortung für alles und jeden, und verlieren dabei sich selbst.

Co-Narzissmus als Überlebensstrategie

Empathen mit traumatischen Prägungen entwickeln oft übersteigerte Anpassung. Sie lesen Räume, spüren Stimmungen, passen sich an. Sie wollen Harmonie, koste es, was es wolle. Doch in stressigen Situationen kippt dieses Muster: Sie wirken plötzlich kontrollierend, dominant, perfektionistisch. Nicht, weil sie andere beherrschen wollen, sondern weil sie gelernt haben:

„Nur wer stark wirkt, überlebt.“

Der Politiker hatte genau diese Dynamik entwickelt. Er wirkte nach außen kühl, unnahbar, fast arrogant, während er innerlich unter Strom stand. Sein eigentlich empathischer Charakter war unter Schichten aus Selbstschutz begraben.

Wie Coaching Co-Narzissten hilft

Im Coaching arbeiteten wir in zwei Phasen:

Bewusstmachen der Muster:

  1. Er lernte, seine körperlichen Reaktionen wahrzunehmen, besonders Haltung und Atem. Ihm fiel auf, wie oft er unbewusst den Atem anhielt.
  2. Jede Spannung im Körper war ein alter Reflex: „Ich darf mich nicht zeigen.“
  3. Durch Traumaarbeit und Entschleunigung entstand zum ersten Mal Raum für Reflexion.

Kommunikation aus dem Selbst statt aus dem Schmerz:

  1. Mit Michael entwickelte der Mann eine Strategie, die nicht auf Kontrolle, sondern auf Präsenz basiert.
  2. Statt auf Kritik zu reagieren, lernte er, kurz innezuhalten und authentisch zu antworten.
  3. Kein Einüben von Floskeln, sondern das Wiederfinden der eigenen Stimme.

Das Resultat:

Er sprach ruhiger, klarer, menschlicher. Die Wirkung nach außen war glaubwürdiger. Nicht, weil er eine Rolle spielte, sondern weil er sie ablegte.

Warum Co-Narzissmus in Führung und Medien so häufig vorkommt

Gerade Menschen mit hohem Verantwortungsbewusstsein: Politiker, Führungskräfte, Coaches, sind besonders anfällig für co-narzisstische Muster. Sie wollen alles richtig machen, Erwartungen erfüllen, Harmonie wahren. Doch diese Haltung führt in Stressphasen zu Überanpassung und Kontrollverlust. Wenn dann ein öffentlicher Shitstorm entsteht, reagieren sie emotional. Nicht aus Ego, sondern aus Schmerz. Social Media verstärkt dieses Muster. Likes, Kommentare, Kritik, all das wirkt wie ein Verstärker alter Glaubenssätze.

  • „Ich bin nicht genug.“
  • „Ich muss mich beweisen.“

So entsteht eine gefährliche Feedback-Schleife aus Anpassung, Reizbarkeit und Erschöpfung.

Vom Getriebenen zum Selbstbewussten

Heute begegnet dieser Politiker der Öffentlichkeit anders. Nicht, weil er ein Coaching „absolviert“ hat, sondern weil er sich verstanden hat. Er reflektiert seine Reaktionen, erkennt alte Trigger, und hat gelernt, sie zu regulieren, bevor sie ihn überrollen.

Sein Weg zeigt:

Nicht jeder, der narzisstisch wirkt, ist einer. Manchmal steht dahinter ein Mensch, der einfach zu lange stark sein musste.

Co-Narzissmus ist kein Modethema, sondern eine unerkannte Überlebensstrategie. Er entsteht aus Verletzung, Anpassung und dem tiefen Wunsch, richtig zu handeln. Doch Heilung beginnt erst, wenn ein Mensch sich erlaubt, unperfekt zu sein. Dann wird aus Kontrolle Vertrauen, und aus Verteidigung Präsenz.

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    Bildquelle: Chris Oeuvray

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