Den Machern der Sendung scheint eine echte Sensation gelungen zu sein: Sie haben anhand von eingetrockneten Blutresten Hitlers DNA analysieren können und kommen zu dem Ergebnis, Hitler habe am Kallmann-Syndrom gelitten. Dabei handelt es sich um eine seltene genetische Erkrankung. In der Sendung wird zumindest indirekt die These vertreten, diese Erkrankung sei ein Grund für sein brutales Verhalten. Und dafür, dass er möglicherweise einen Mikropenis hatte. Da stellen sich Fragen.
Zunächst einmal: Wie sicher ist es eigentlich, dass das untersuchte Blut tatsächlich von Hitler stammte? Immerhin hat er sich am 30. April 1945 im Führerbunker unterhalb der Berliner Reichskanzlei selbst umgebracht – vor 80 Jahren. Woher stammen die angeblichen Blutreste also?
Das Blut ist heute im Museum
Sie befinden sich auf einem größeren Stoffrest, der vom Bezug des Sofas im Bunker stammen soll, auf dem er sich erschoss. Kurz nach dem Krieg will der amerikanische Offizier Roswell P. Rosengreen ihn herausgeschnitten und später mit in die USA genommen haben. Hier übergab er ihn dem Gettysburg Museum of History, das ihn bis heute aufbewahrt.
Aber stammt das Blut wirklich von Hitler, wie es Channel 4 behauptet? Immerhin hatte der Sender 2014 mal dem englischen Holocaust-Leugner David Irving für 3000 Dollar eine Locke abgekauft, die angeblich einst Hitlers Kopf geziert haben sollte – sich aber als Fälschung erwies. Erschwert wurde die Beweisführung durch die Weigerung von in den USA lebenden Hitler-Nachfahren, die Journalisten mit der Gabe einer DNA-Probe zu unterstützen.
Doch sie konnten schließlich auf eine Blutprobe zurückgreifen, die einer der Nachfahren des Diktators 2014 einem anderen Journalistenteam überlassen hatte. Der Abgleich mit dem Blut auf dem Stoffrest ergab eindeutig: Das Blut stammt von Hitler.
Seine weitere Untersuchung brachte dann an den Tag, dass Hitler am sogenannten Kallmann-Syndrom litt. Eine Folge dieser seltenen genetischen Erkrankung, die ungefähr einen von 10.000 Menschen zutrifft, ist das vollständige oder teilweise Ausbleiben der Pubertät. Ebenso kann als Folge bei Männern ein Kryptorchismus auftreten – ein Hoden, der nicht in den Hodensack wandert.
Ein Hinweis auf das Kallmann-Syndrom
Und tatsächlich wissen wir aus der erst vor wenigen Jahren entdeckten Akte des Gefängnisarztes aus dem Gefängnis Landsberg, der Hitler 1923 untersuchte, dass er an einem rechtsseitigen Kryptochismus litt. Hitler war nach seinem gescheiterten Putsch 1923/24 in Landsberg inhaftiert.
Die Sache mit der Pubertät ist allerdings komplizierter. Denn daran, dass der jugendliche Adolf die Pubertät durchlaufen hat, kann kein Zweifel bestehen. „Hitler hatte einen Schnurrbart und eine tiefe Stimme. Also hat er eine Art Pubertät durchgemacht“, betont Thomas Weber. Der Historiker an der Universität Aberdeen ist einer der besten Hitler-Experten. Bekannt sei, fügt er hinzu, dass der spätere „Führer“ in jungen Jahren nach Aussagen damaliger Zeitzeugen häufig ein unsicheres Auftreten an den Tag gelegt habe. Das könne damit zusammenhängen dass er sich unvollkommen gefühlt habe und damit auch ein Hinweis auf einen Mikropenis sein.
Das Kallmann-Syndrom geht zudem oft einher mit schwankenden Testosteronwerten. Sie können durch Verabreichung von Testosteron ausgeglichen werden – und genau das hat Hitlers Leibarzt Theodor Morell in den 40er-Jahren erwiesenermaßen auch gemacht.
Soweit also kann man der Channel 4-Sendung folgen. Die Frage, die sich stellt, lautet aber: Was sagen diese Befunde über den Hintergrund von Hitlers Verhalten als brutaler, herrschsüchtiger und rassistischer Diktator aus? Die neuen genetischen Erkenntnisse könnten einen weiteren Hinweis darauf gegeben, was Historiker ohnedies schon lange vermuten: dass Hitler unfähig war, sexuelle Beziehungen einzugehen und dies in seiner Politik und seinen Herrscher- und Vernichtungsphantasien kompensierte.
Leider bleibt die Sendung an dieser Stelle nicht stehen. Und hier beginnen die Schwierigkeiten.
Sie beginnen bereits mit der Frage, warum sich Hitler eigentlich erschoss und warum er forderte, seine Leiche zu verbrennen. Die Sendung von Channel 4 suggeriere, er habe zur Pistole gegriffen, weil er „sehr bedacht darauf gewesen war, etwas zu verbergen“, schreibt die seriöse englische Zeitung „The Guardian“. Und fragt: Hatte der „Führer“ also Angst, dass eines Tages Reporter in seine Unterhose schauen und feststellen, dass er einen Mikropenis gehabt habe?
Angst, öffentlich zur Schau gestellt zu werden
Tatsächlich sind sich die Historiker einig, dass Hitler einen ganz anderen Grund für seinen Selbstmord hatte: Nachdem er gesehen hatte, dass der italienische Duce Benito Mussolini ermordet, an den Füßen an einen Laternenmast gehängt und so öffentlich zur Schau gestellt worden war, wollte er unbedingt vermeiden, dass mit seiner Leiche ähnliches passieren würde.
Schwierig ist aber vor allem, dass die Filmemacher versuchen, Hitlers genetische Veranlagung für psychiatrische und neurologische Entwicklungsstörungen heranzuziehen. Sie führten polygene Risikoscore-Tests (PRS) durch, mit denen angeblich das Risiko von Krankheiten, aber auch von Verhaltensweisen nachgewiesen werden kann. Das Ergebnis: Es bestehe die Möglichkeit, dass Hitler eine Veranlagung zu Bipolarität oder zu Schizophrenie gehabt und an Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) gelitten habe.
Dass Hitler bipolar oder autistisch gewesen sein könnte, haben auch Historiker aufgrund seines Verhaltens schon vermutet. Bekannt ist, dass er zwischen Perioden extremer Passivität und solchen großer Aktivität wechselte. Das könnte auf Bipolarität hindeuten. Die neuen genetischen Befunde sind ein weiterer möglicher Hinweis darauf, bestätigen aber nichts.
Expertin: Kein sicherer Befund
Turi King, eine auch in der Sendung befragte Genetikerin, sagt jetzt eindeutig: „Wir können nicht mit Sicherheit sagen, dass Hitler eine dieser Erkrankungen hatte, sondern nur, dass er hinsichtlich der genetischen Belastung für einige Erkrankungen zu den am stärksten Betroffenen gehörte.“
Experten weisen zudem auf einen weiteren sehr wichtigen Aspekt hin, nämlich dass solche PRS-Tests wohl über die Gesamtbevölkerung etwas aussagen können, nicht aber über einzelne Menschen. Kurzum: Über eine mögliche Erkrankung Hitlers mit Autismus oder ADHS sagen die an seinem Blut durchgeführten Tests nur wenig aus. Bestenfalls, dass es eine gewisse Wahrscheinlichkeit gibt.
Ein mit solchen unbelegten Spekulationen verbundenes Risiko liegt auf der Hand: Durch die Spekulation oder gar Behauptung, Hitler als Inkarnation des Bösen sei Autist gewesen oder habe an ADHS gelitten, entsteht – zumal in unseren aufgeregten, durch Social Media geprägten Zeiten – die Gefahr, von diesen Krankheiten betroffene Personen zu stigmatisieren.
Wie schnell eine Vermutung zu einer feststehenden Behauptung werde, zeige ausgerechnet der Film selbst, so der „Guardian“. Denn nur wenige Minuten, nachdem zunächst eher vorsichtig die Möglichkeit einer Autismus-Erkrankung Hitlers erwähnt werde, werde bereits ausdrücklich von „Hitlers Autismus“ gesprochen und aufgrund dieser Behauptung dann kräftig weiter spekuliert.
Für die Verbrechen gar nicht verantwortlich?
Und noch eine andere Gefahr tut sich auf: Man könnte auf die These kommen, dass Hitler, sollte er tatsächlich krank gewesen sein, für seine Taten gar nicht verantwortlich gemacht werden könne. Dann würde sich allerdings noch mehr die Frage stellen, warum so viele Deutsche ihm – einem nicht nur politisch Verrückten, sondern eben auch medizinisch Kranken – so bedingungslos gefolgt sind.
Sich mit der Frage zu beschäftigen, ob Hitler, der den schlimmsten Krieg der Menschheitsgeschichte angezettelt hat, im medizinischen Sinn krank war und welche Auswirkungen das möglicherweise für seine Politik und damit auf das Schicksal von zig Millionen Menschen hatte, ist völlig in Ordnung. Seriöse Historiker wie Henrik Eberle und Hans-Joachim Neumann haben das in ihrem Buch „War Hitler krank? Ein abschließender Bericht“ auch bereits getan. Auch der Channel 4-Film bringt einige neue spannende Erkenntnisse, aber ergeht sich dann offensichtlich in unbelegten und kaum seriösen Spekulationen.
Die Frage, ob Hitlers bestes Stück tatsächlich nur eine Mini-Ausgabe war, bleibt auch nach der genetischen Untersuchung seines Bluts unbeantwortet. Sehr groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sehr klein war, allerdings nicht: Der Anteil der am Kallmann-Syndrom leidenden Männer mit Mikropenis liegt nur bei rund zehn Prozent.