Als am Morgen des 18. Mai 1942 in Berlin das Leben erwacht, staunen viele Passanten auf dem Kurfürstendamm nicht schlecht. An zahlreichen Stellen - Hauswänden, Litfaßsäulen oder Laternenpfählen - kleben Zettel mit merkwürdigen Aufschriften: „Ständige Ausstellung ‚Das Nazi-Paradies‘ – Krieg – Hunger – Gestapo – Wie lange noch?“
Viele der Vorbeikommenden verstehen sofort, was mit diesen illegalen Zetteln gemeint ist: die Ausstellung „Das Sowjetparadies“, eine nationalsozialistische Propagandaschau über die rückständige Sowjetunion.
Die Gestapo ist alarmiert
Schließlich kämpft die Wehrmacht seit elf Monaten in Stalins Reich, aber der Widerstand der Roten Armee ist viel größer als vom „Führer“ Adolf Hitler und seinen willfährigen Generälen anfangs vermutet.
Weil das Grummeln in der Bevölkerung nicht zu überhören ist, soll die Ausstellung ihren Besuchern klar machen, dass die bolschewistische Sowjetunion, der Erzfeind des Dritten Reiches, Deutschland in allen Belangen unterlegen ist.
In mehrere Ecken der Hauptstadt wurden über Nacht solche Zettel geklebt. Das ist illegal und wird als Hochverrat geahndet. Die Gestapo ist alarmiert. Zusätzlich nervös macht sie, dass in derselben Nacht auch ein Brandanschlag auf die Ausstellung verübt wurde. Diese Täter schnappt die Gestapo binnen kurzer Zeit, aber bei den Zettelklebern tappen die Ermittler eine ganze Weile im Dunklen.
Gestapo vermutet ein kommunistisches Spionagenetz
Erst im Spätsommer 1942 gelingen die ersten Zugriffe. Im Laufe einiger Wochen offenbart sich ein konspiratives, aber locker gespanntes Netz von Gegnern des Nationalsozialismus, das später unter dem Namen „Rote Kapelle“ bekannt wird. Kopf der Gruppe ist Harald Schulze-Boysen, ein Offizier der Luftwaffe und strikter Nazi-Gegner.
Die Gestapo vermutet ein kommunistisches Spionagenetz und geht daher rigoros vor. Belege dafür, dass die Mitglieder der Gruppe geheime Informationen nach Moskau gefunkt haben, kann sie aber nicht erbringen. Tatsächlich gab es diesen Plan, aber er scheiterte an technischen Unzulänglichkeiten.
Zu diesem sehr weit verzweigtem Netz gehört auch eine Gruppe von Schülern des Heilschen Abendgymnasiums im Berliner Bezirk Schöneberg. Es handelt sich um junge Männer und Frauen, die nicht zusehen wollen, wie Hitler Deutschland und Europa in den Abgrund stößt.
Mit dabei ist Liane Berkowitz. Die 18-Jährige gehört auch zu der Gruppe, die im Schutze der Dunkelheit auf dem Kudamm die Zettel geklebt hat. Eine Tat, die zwar mutig ist, aber fatale Konsequenzen haben wird.
Schicksal der mutigen, naiven jungen Mutter ist erschütternd
Die gebürtige Russin lebt mit ihrer Mutter am Viktoria-Luise-Platz im Bezirk Schöneberg. Auch ihr Freund Friedrich Rehmer ist Teil der Gruppe. Er ist eigentlich Wehrmachtssoldat, aber aufgrund einer Kriegsverletzung am Fuß hält er sich in Berlin auf. Eine Kugel hat an der russischen Front einen Fußknöchel des 21-Jährigen zertrümmert.
Das junge Paar gerät schließlich in die Fänge der Nazi-Häscher. Zuerst wird Liane Berkowitz am 26. September 1942 verhaftet. Schon zu diesem Zeitpunkt sind mindestens 70 Frauen und Männer, die der Roten Kapelle zugerechnet werden, in Haft. Zwei Monate später ereilt auch Lianes Freund das gleiche Schicksal.
Was in den folgenden dramatischen Monaten passiert, hat der Historiker Johannes Tuchel, aufgeschrieben. Das Schicksal dieser mutigen, sicher auch naiven jungen Menschen erschüttert.
Durch erhaltene Briefe Lianes aus den langen Monaten der Haft im Frauengefängnis Barnimstraße an ihre Mutter können wir Anteil Teil nehmen an ihren Ängsten, ihrem Leiden, ihren Sehnsüchten und ihren Hoffnungen.
Vollstreckung wird verschoben
Als sie am 18. Januar 1943 in Berlin vor dem Reichskriegsgericht steht, ist Liane klar, dass sie ein hartes Urteil erwartet. Der Vorwurf lautet immerhin „Vorbereitung zum Hochverrat und zur Feindbegünstigung“ – Kritik am Regime steht bei den Nationalsozialisten eben ganz oben auf der Liste der schlimmen „Verbrechen“.
Der Richterspruch ist dann aber trotzdem ein großer Schock, denn er lautet: Tod durch das Fallbeil. Die Vollstreckung wird jedoch verschoben. Das hat unter anderem einen Grund: die junge Frau trägt ein Ungeborenes unter der Brust. Sie ist im sechsten Monat schwanger.
Noch scheint es Hoffnung zu geben. Lianes Mutter und sie selbst versuchen alles, um die Nazi-Behörden davon zu überzeugen, dass ein Vorwurf nichts mit der Wahrheit zu tun hat: dass Liane Kommunistin sei. Auch wenn sie sie laut Zeugen mal in diese Richtung geäußert hat, so macht der Vorwurf keinen Sinn, denn Lianes Eltern sind aus Russland gerade vor den Bolschewisten geflohen.
Letzte Hoffnung: Gnadengesuche an den "Führer"
Die junge Frau schwärmt für ihr Heimatland, für die Kultur, die Literatur – aber sie ist dabei völlig unpolitisch. Dagegen ist sie tiefgläubige Anhängerin der russisch-orthodoxen Kirche. Sie lehnt die Nazis aus tiefstem Herzen ab, aber ob sie sich wirklich klar macht, was es bedeutet, dem Umfeld eines Widerstandskreises anzugehören, wissen wir nicht.
Die letzte Hoffnung sind schließlich Gnadengesuche an den „Führer“. Das Gesuch ihres Freundes wird abgelehnt und er wird am 13. Mai 1943 im Gefängnis Berlin-Plötzensee hingerichtet. Liane erfährt davon erst später, als sie selbst dem Tod unweigerlich ins Gesicht blickt.
Vier Wochen vor Rehmers Tod bekommt sie im Frauengefängnis Barnimstraße am 12. April ihr Kind, ein schwächliches Mädchen mit dem Namen Irena, das unter Mangelernährung leidet. Irenas Geburt gibt der jungen Mutter noch ein letztes Mal Mut. Sie legt alle ihre Hoffnungen auf das Gnadengesuch an Hitler.
Sogar Göring wollte sie retten
Und Liane hat gewichtige Fürsprecher. Niemand geringeres als Hitlers zweiter Mann Hermann Göring spricht sich für eine Umwandlung der Todes- in eine Gefängnisstrafe aus. Aber Hitler bleibt hart und lehnt das Gesuch persönlich ab.
Zwei Wochen später, am 5. August, wird die Todeskandidatin um 12 Uhr mittags von der Barnimstraße in das Strafgefängnis Plötzensee überführt. Um 13.30 Uhr wird ihr mitgeteilt, dass die Hinrichtung um 19 Uhr am selben Tag stattfinden soll.
Liane hat zu diesem Zeitpunkt mit dem Leben schon abgeschlossen, sie wirkt ruhig und lässt sich kurz vor ihrem Tod noch mit dem katholischen Pfarrer Peter Buchholz die Heilige Kommunion geben – das erste Mal im Leben der russisch-orthodoxen Liane.
Fallbeil bereitet Lianes Leben ein Ende
In einem Abschiedsbrief aus diesen Stunden an ihre Mutter schreibt sie: „Meine einzige teure geliebte Mammotschka! Es ist aus. Heute, wenn es dunkel geworden sein wird, lebt deine Lanka nicht mehr. Mein Trost und meine Hoffnung ist meine kleine Irka, die ja Gott sei Dank keine Ahnung hat, was um sie vorgeht.“
Der lange, im Original erhaltene Brief endet mit den Worten: „Ich umarme, grüße, küsse Dich zum letzten Mal, küsse Deine Hände und empfange Deinen Segen. Deine ruhige, unglückliche Lanka.“
Um 19.24 Uhr bereitet das Fallbeil ihrem Leben das Ende – zwei Tage vor ihrem 20. Geburtstag. Insgesamt werden 14 Mitglieder der Roten Kapelle in dieser Stunde ermordet, darunter auch andere junge Frauen.
Lianes Hoffnung auf eine gute Zukunft für ihre Tochter Irena erfüllt sich nicht. Das Kind stirbt nur zwei Monate nach ihrer Mutter im Alter von sechs Monaten im Krankenhaus Kurmark des Deutschen Roten Kreuzes in Eberswalde. Historiker Tuchel hält es für wahrscheinlich, dass man das Baby bewusst sterben ließ.