"Es geht um Freiheit“: Wie ein Arzt beim selbstbestimmten Sterben hilft

Als ich am Dienstagabend zum Hörer greife, ist mir etwas mulmig zumute. Draußen ist es schon dunkel, ich bin fast alleine in der Redaktion. Am Vortag hatte die Todesnachricht der Kessler-Zwillinge das ganze Land erschüttert. Schnell wird klar: Es war assistierter Suizid. Ein Thema, das noch immer schwer nachhallt. Und das mir seit Stunden im Kopf kreist.

Es klingelt zweimal, dann hebt Martin Goßmann ab. Er spricht schnell und energetisch, wirkt gelöst und offen – von einem Arzt, der Menschen unterstützt, die sterben möchten, hatte ich etwas anderes erwartet. Ich bin nicht sicher was. Vielleicht mehr Schwermut oder Melancholie. Stattdessen überrascht der Psychiater mich mit einer erfrischenden Rationalität, gepaart mit erstaunlich viel Zuversicht.

Goßmann leitet das Ärzteteam der Vereins Sterbehilfe. Um die 30 Medizinerinnen und Mediziner arbeiten dort nebenberuflich als Gutachter und attestieren Menschen, die einen Sterbewunsch gefasst haben, die sogenannte "Freiverantwortlichkeit". Also die Fähigkeit und das Recht, Entscheidungen selbstständig und unabhängig zu treffen, basierend auf ihrem eigenen Willen und ihren Überzeugungen. Eine unabdingbare Voraussetzung für die Zulässigkeit von Suizidassistenz.

Kurz gesagt: Wer die Begleitung und Unterstützung bei einem selbstbestimmten Sterbeentschluss durch den Verein Sterbehilfe wünscht, kommt an Goßmann und seinem Team nicht vorbei.

Assistierter Suizid ist in Deutschland unter bestimmten Voraussetzungen legal

Einer anderen Person beim Suizid zu helfen, ist in Deutschland rechtlich erlaubt. Das hat das Bundesverfassungsgericht 2020 nach einer Verfassungsbeschwerde entschieden. Im Urteil heißt es: "Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben". Das umfasse auch die Freiheit, "hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen". 

Konkret bedeutet das, dass Angehörige, Mediziner oder Vertreter eines Sterbehilfevereins Menschen mit dem Wunsch zu sterben auf ihrem Weg unterstützen dürfen. Etwa durch medizinische und rechtliche Beratung, aber eben auch indem ein Sterbehelfer dem Patienten ganz konkret eine tödliche Substanz bereitstellt. Wichtig ist, dass dieser sie selbst einnimmt. 

Hilfe bei Suizid-Gedanken

Anmerkung der Redaktion: Wir haben uns in diesem Fall entschieden, über das Thema Suizid zu berichten. Sollten Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge. Hilfe finden Sie bei kostenlosen Hotlines wie 0800-1110111 oder 0800 3344533.

"In Deutschland bringt der Sterbearzt den Menschen nicht um, sondern gibt ihm die Dinge an die Hand, mit denen ersein Leben selber beenden kann, wenn er das möchte", erklärt Goßmann im Gespräch mit FOCUS online. Damit grenzt sich der Prozess klar ab von der aktiven Sterbehilfe, also wenn jemand der sterbewilligen Person das tödliches Medikament aktiv verabreicht. Diese ist verboten und strafbar.

Goßmann versteht sich hingegen als jemand, der Menschen dabei unterstützt, ihre eigene Vorstellung von ihrem Leben zu verwirklichen: "Es geht um Freiheit und es geht um Selbstbestimmung. Wir betreiben nicht den Tod".

Assistierter Suizid: Wann der Verein "Grünes Licht" gibt

Wer die Suizid-Assistenz durch den Verein beantragen will, muss ein paar Voraussetzungen erfüllen, darunter:

  • Mitgliedschaft beim Verein (keine Mindestdauer, aber Zahlung der Mitgliedsbeiträge)
  • Auseinandersetzung mit Alternativen eines Suizids
  • Freiverantwortlichkeit
  • innere Festigkeit und Zielstrebigkeit des Entschlusses

Erst wenn diese nachweislich erfüllt sind, kann der Verein das sogenannte "Grüne Licht" geben, also das Versprechen, beim Suizid zu assistieren.

Der erste Schritt ist die Kontaktaufnahme mit dem Verein. "Grundsätzlich können sich alle, die sich über das Thema informieren möchten, an den Verein wenden, Informationsmaterialen anfordern und sich beraten lassen", sagt Goßmann. Nicht immer stecke ein konkreter Sterbewunsch dahinter. Manche werden Mitglied, um die Tätigkeit des Vereins zu unterstützen, manche werden Mitglied, weil sie davon ausgehen, dass sie über ihr Lebensende irgendwann selbst entscheiden wollen, und es

gebe auch Personen, die sich melden und sagen: 'Ich habe mir das schon länger überlegt und jetzt den Mut gefasst. Was brauchen Sie von mir?' Ihr Ziel ist ganz konkret der Antrag auf Suizidassistenz. "Dann geht das Gespräch natürlich anders", berichtet Goßmann. "Dann heißt es: Wir schicken Ihnen einen Fragebogen, den müssen Sie bitte ausfüllen. Und wir benötigen medizinische Unterlagen. Wir unterstützen Sie gegebenenfalls bei der Erstellung einer Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung. Im Anschluss schlagen wir einen Termin für ein Gespräch per Video vor. Dabei kann die Person in aller Ruhe ganz formlos ihre Situation erklären." Die Aufnahme diene der Absicherung und Dokumentation – falls im Nachgang eine Staatsanwaltschaft Zweifel habe.

Schon währenddessen achtet der Verein auf Plausibilität. "Wir haben auch Anrufe von Leuten, bei denen wir wissen, da werden wir keine Sterbehilfe leisten können. Die Person ist unklar in den Aussagen, widersprüchlich oder drängelt auffällig". 

"Wir stellen die Freiverantwortlichkeit fest. Mehr nicht"

Erst wenn diese Punkte stimmen, kommt es überhaupt zum Gutachten der Freiverantwortlichkeit durch Goßmann und sein Team. "Dann führen wir erstmal ein Gespräch, meistens bei den Personen zuhause", berichtet der Psychiater. "Manchmal geht es schneller, wenn der Fall ganz klar ist, manchmal dauert es länger, weil dieses oder jenes noch geklärt werden muss." Darauf aufbauend erstellen sie ein ausführliches Gutachten, welches die Freiverantwortlichkeit bestätigt – oder eben nicht. 

"Das Gutachten bedeutet nicht, dass der Mediziner findet, dass man zum Beispiel bei dieser Krebserkrankung tatsächlich besser aus dem Leben scheidet", betont Goßmann. "Wir stellen lediglich fest, ob die Person, die das für sich gerade entscheidet, weiß, was sie da entscheidet: Ob sie ausreichend informiert ist über die Alternativen, sie gegeneinander abgewogen hat, lange genug darüber nachgedacht hat und frei von Einflüssen ist, die die Urteils- und Entscheidungsfähigkeit einschränken würden. Mehr nicht."

Erst wenn das Gutachten zur Freiverantwortlichkeit verfasst und für mehrere Menschen plausibel ist, entscheidet nicht der Gutachter, sondern der Verein über das "Grüne Licht". "Bekommen Sie ihr Grünes Licht, kommt ein Brief nach Hause, in dem steht ungefähr: 'Hiermit erteilen wir Ihnen das Grüne Licht.' Und dann hören wir von der Hälfte der Leute nie wieder etwas", sagt Goßmann.

Für viele ist das "Grüne Licht" eine Art Lebensversicherung

Kurze Stille am Telefon. "Die Hälfte, nach all dem Prozedere?", frage ich erstaunt. "Ja", antwortet Goßmann. In vielen Fällen wisse er nicht, was danach passiert. Denn die ethischen Grundsätze des Vereins legen fest: "Nachdem der Verein Grünes Licht gegeben hat, tritt er an das Mitglied nicht mehr heran." Erst wenn sich das Mitglied selbst mit dem "definitiven Wunsch zu sterben" melde, werde "die Durchführung der Suizid-Assistenz gemeinsam festgelegt". 

Dass es häufig nicht dazu kommt, überrascht den Mediziner nicht. "Wissen Sie, es geht in vielen Fällen nur darum, die Option zu haben. Und da bin ich froh, dass die rein rechtlich jeder hat". Für viele sei alleine schon die Möglichkeit, im Ernstfall über einen selbstbestimmten Tod entscheiden zu können, unglaublich entlastend.

Im Laufe der Jahre habe er viele solche Fälle erlebt: Goßmann erinnert sich etwa an eine Frau mit einem gynäkologischen Tumor, der schon Bauchfellmetastasen gebildet hatte. Die Wahrscheinlichkeit, wieder zu genesen, lag bei vier bis fünf Prozent. "Und dann sagte sie: 'Ich plane jetzt den Notausgang. Ich plane für den Fall, dass ich es brauche, auch wenn es noch nicht sicher ist'". Eine andere Frau sagte ihm fünf Jahre nach der ersten Begutachtung: "Für mich war das damals eine lebensverlängernde Maßnahme. Meine Krankheit kann ganz schnell ganz furchtbar werden und dann weiß ich, ich kann mich an Sie wenden. Aber es wurde nicht ganz furchtbar, vor allem aber hatte ich keine Angst mehr. Denn ich wusste, ich könnte mich immer melden".

Selbstbestimmtes Sterben innerhalb der engsten Familie

Für die anderen 50 Prozent kommt der Tag, an dem sie sich wieder beim Verein melden. "Je nachdem, wieviel Zeit seit dem Grünen Licht vergangen ist, erstellen wir ein neues Gutachten", sagt Goßmann. Das kann unter Umständen auch ganz anders ausfallen als beim ersten Mal. Oder das Gutachten bestätigt vorab erneut die Freiverantwortlichkeit – die Sterbehelfer haben aber am Tag des Suizids jedoch Zweifel daran – "Dann machen wir es nicht", sagt Goßmann. 

Das führt auch immer wieder zu Kritik am Verein. 2022 geriet ein Fall an die Öffentlichkeit, bei dem ein Antrag auf Suizidassistenz bei einem Ehepaar abgelehnt wurde. Auch Goßman berichtet von solchen Fällen. Auch wenn er den Missmut verstehen könne, seine Einstellung wird im Gespräch klar: Sobald irgendeine Form von Zweifel bestünde, müsse es geklärt werden.

Sind die Motive aber weiterhin plausibel, findet der assistierte Suizid statt. Meistens bei den Patienten zuhause, häufig im engsten Kreise der Familie. Eine der ersten Fragen, die Goßmann daher stellt, ist, wer am Tag des Suizids als Sterbehelfer dabei sein soll. Diese Person wird, wenn gewünscht, schon früh in den Prozess mit eingebunden und ist teilweise auch beim Gutachtengespräch dabei. "Dann erkläre ich nicht nur, wie es passiert, sondern auch, was danach passiert", berichtet er. Der Anruf bei der Polizei und der weitere Prozess können sehr belastend sein. "Ich muss also auch feststellen, ob diese Person sich dazu überhaupt in der Lage fühlt".

Häufig die Familie zwar anwesend, aber jemand vom Verein als Sterbehelfer dabei. Dieser kümmere sich um solche Angelegenheiten, während die Familie Zeit zum trauern habe. Goßmann erinnert sich an einen Fall, bei dem ein Angehöriger zum Sterbebegleiter sagte: "Ich werde spazieren gehen und nehme mein Handy mit und sitze auf der Bank am Stadtpark. Sie rufen mich bitte an, wenn es soweit ist." Wie genau alles abläuft, werde immer individuell geregelt.

"Es ist günstig nicht Sterbehelfer und Gutachter zu sein"

Mediziner sind nur in Ausnahmefällen am Todestag anwesend und als Sterbehelfer tätig, berichtet Goßmann. Etwa wenn es aus medizinischen Gründen notwendig ist. "Wenn Sie zum Beispiel ein Ösophaguskarzinom, also Speiseröhrenkrebs, haben und ein Medikament nicht schlucken können, dann brauchen Sie eine Infusion". Ob die richtig läuft, müsse fachkundig überwacht werden. Das seien aber Sonderfälle.

Die Kessler-Zwillinge sind mit 89 Jahren gemeinsam verstorben. Sie sollen begleitete Sterbehilfe in Anspruch genommen haben.
Die Kessler-Zwillinge sind mit 89 Jahren gemeinsam verstorben. Sie sollen begleitete Sterbehilfe in Anspruch genommen haben. imago/Sven Simon

"Ich persönlich habe dazu eine ziemlich deutliche Meinung, die der Verein auch teilt: Es ist nicht günstig, gleichzeitig Gutachter und dann auch Sterbehelfer bei der selben zu sein." Als Beispiel nennt er zwei Fälle von Medizinern, die vor kurzem zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. "Sie haben Suizidhilfe geleistet und haben sich vorher auch mit den Personen befasst. Sie waren aus ihrer Sicht der Meinung, dass Freiverantwortlichkeit vorlag. Sie haben aber keine andere Person gefragt, die das noch einmal hätte bestätigen können oder im besten beziehungsweise im schlimmsten Fall auch nicht bestätigt hätte."

Stattdessen sollten laut Goßmann immer mehrere Personen beteiligt sein – beim Verein Sterbehilfe seien es mindestens drei, meistens fünf. 

Er selbst war deswegen erst bei drei Fällen als Sterbehelfer anwesend. Diese hat er in positiver Erinnerung, die Stimmung beschreibt er als gelöst. "Es hat mich beeindruckt, dass diese sehr kranken Menschen wirklich froh waren, dass sie sterben konnten." 

Entgegen häufiger Annahme: Assistierter Suizid ist nicht "ungeregelt"

Die Nachricht, dass die Kessler-Zwillinge ihr Leben im Rahmen eines assistierten Suizids beendet haben, ging durch alle Medien. Die Meinungen dazu gehen auseinander. Der Tod und die Auffassung davon, wie man "richtig" stirbt sind sehr persönliche Angelegenheiten.

In der öffentlichen Diskussion werden aber auch immer wieder Stimmen laut, die den Prozess als undurchsichtig oder ungeregelt beschreiben. Das ärgert Goßmann. Der Ablauf sei zwar individuell, das Prozedere aber sehr klar geregelt. "Es wird immer von der Grauzone der Suizidassistenz gesprochen, ich wüsste nicht, was das sein soll. Es ist vom Bundesverfassungsgericht geregelt, dass Ihnen dazu das Recht zusteht. Es ist sogar festgeschrieben worden, welche Kriterien zu erfüllen sind".

Goßmann wünscht sich daher insgesamt "eine lautere und ehrlichere Diskussion" um den assistierten Suizid. Die Diskussion drehe sich häufig darum, das man sich nicht um Sterbehilfe kümmern müsse, sondern stattdessen Palliativstation ausbauen sollte. "Viele der Menschen, die im Verein Sterbehilfe mit Suizid-Assistenz sterben wollten, wollten nicht auf eine Palliativstation. Selbst wenn es sie gegeben hat – sie wollten es nicht, und ich finde, sie müssen es nicht wollen", bilanziert der Mediziner.