Das Schicksal einer Hamburger Familie, die in Istanbul ums Leben gekommen ist, bestürzt die Menschen in Deutschland und der Türkei gleichermaßen.
Die vierköpfige Familie war Anfang November von Hamburg nach Istanbul gereist und hatte dort in einem Hotel eingecheckt. Wenige Tage später klagten Vater, Mutter und die beiden Kinder (3 und 6) über Übelkeit sowie Erbrechen und suchten ein Krankenhaus auf. Ihre Symptome verschlimmerten sich, alle vier Familienmitglieder sind mittlerweile verstorben.
Zunächst stand der Verdacht einer Lebensmittelvergiftung im Raum, da die Hamburger an mehreren Stellen Streetfood verzehrt hatten. Einem neuen toxiokologischen Bericht zufolge ist jedoch eine Pestizidvergiftung mit hoher Wahrscheinlichkeit die Haupttodesursache.
Demnach hatte die Hotelleitung offenbar eine Firma mit der Bekämpfung von Bettwanzen beauftragt, wobei das Pestizid Aluminiumphosphid, ein hochwirksames Begasungsmittel, zum Einsatz kam.
Neuer Vergiftungs-Verdacht im Todesfall einer Hamburger Familie
Wie am 17. November bekannt wurde, verließ die Familie die Unterkunft eine Stunde bevor die Firma das Erdgeschoss des Hotels mit Pestiziden behandelt hatte. Drei Stunden nach Ende des Einsatzes kam die Familie zurück in ihr Zimmer, das durch einen Lüftungsschacht mit dem Erdgeschoss verbunden ist.
Auch Cihan Çelik, Sektionsleiter der Pneumologie der Medizinischen Klinik II des Klinikums Darmstadt und Träger des Bundesverdienstkreuzes, hält eine Pestizidvergiftung für die wahrscheinlichere Todesursache.
"Die Frage, ob es sich um eine Lebensmittelvergiftung gehandelt haben könnte, hat bei vielen Medizinern sehr, sehr viele Fragezeichen verursacht. Dass eine ganze Familie verschiedenen Alters durch eine Lebensmittelvergiftung ausgelöscht wird, ohne dass eine Immunkompromittierung (Schwächung des Immunsystems, Anm. d. Red.) vorliegt – das wäre extrem ungewöhnlich", sagt der Mediziner im Gespräch mit FOCUS online.
Welche Symptome eine Pestizidvergiftung hervorruft
Eine Vergiftung mit Aluminiumphosphid, das bei Kontakt mit Flüssigkeit oder Feuchtigkeit zu einem gefährlichen Gas reagiert, hingegen könne innerhalb von kurzer Zeit tödlich enden – auch bei gesunden Menschen. "Und diese würde auch mit unspezifischen Symptomen beginnen, wie im Fall dieser Familie", erklärt Çelik. Zu den Beschwerden zählen anfangs unter anderem
- Übelkeit,
- Erbrechen,
- Schwindel,
- Benommenheit,
- Bauchschmerzen,
- Atemwegsbeschwerden,
- und Reizhusten.
Diese treten abhängig von der Menge der eingeatmeten Pestizide ungefähr innerhalb einer Stunde auf.
Es sei denkbar, dass nach einer stabilisierenden kurzen Therapie mit einer Infusion im Krankenhaus sich der Zustand der Familie zunächst gebessert habe. "Das würde aber die Kaskade der Zellschädigung nicht aufhalten und es folgen Multiorganversagen und Schock", sagt der Pneumologe. Diese treten ungefähr vier bis fünf Stunden nach den ersten Symptomen auf.
Da das Hotelzimmer der Familie mit dem Abluftschacht verbunden und verschlossen war, habe sich dort viel Aluminiumphosphid anreichern können. "Im Hotelzimmer ohne Belüftungsanlage könnte sich eine Kammer mit hoher Konzentration gebildet haben", sagt der Pneumologe.
Die These der Pestizidvergiftung sei aufgrund dieser Erkenntnisse die wahrscheinlichste – auch, weil zwei weitere Hotelgäste über Unwohlsein geklagt hatten.
Was Aluminiumphosphid so tückisch macht
Dass das Hotel mit Pestiziden behandelt wurde, hätten die Betroffenen nicht ahnen können. "Der Geruch von Aluminiumphosphid wird bezeichnet als eher fischig, knoblauchartig und nicht extrem chemisch. Da gehen nicht alle Alarmglocken an", sagt Çelik. "Es ist auch nicht ungewöhnlich in Istanbul, dass es mal nach Knoblauch oder Fisch riecht, gerade wenn man in der belebten Innenstadt ist." Das sei tückisch.
Ohne diese Information hätten jedoch auch die behandelnden Ärzte nur im Nebel stochern können. "Wenn man das nicht weiß, kommt man wohl nicht darauf, dass leichte Übelkeit, Bauchschmerzen und etwas Unwohlsein mit so einer gefährlichen Vergiftung zu tun haben", sagt der Internist.
Zu wissen, dass ein Patient dem Pestizid ausgesetzt war, sei das "A und O" bei der Behandlung. Ansonsten sei die Suche nach der Ursache in der Frühphase "fast ein Ding der Unmöglichkeit".
Pneumologe rät Türkei-Besuchern, bei Zweifeln das Hotel anzusprechen
Die Verunsicherung manchen Türkei-Urlaubers könne Çelik angesichts dieses tragischen Vorfalls verstehen. "Aber ich glaube, es handelt sich hier nicht um ein Massenphänomen."
Bei Aluminiumphosphid handle es sich um einen hochaggressiven und gefährlichen Stoff. "Da liegt jetzt ein riesengroßer Fokus auf diesem Fall, in der Türkei bestimmt dieser absolut die Schlagzeilen und ich denke, niemand kommt aktuell auf die Idee, ein Hotelzimmer oder geschlossene Räume mit Aluminiumphosphid zu behandeln."
Davon abgesehen könne es Urlaubern helfen, mit dem Hotel zu sprechen. "Man kann fragen: Gab es ein Problem mit Bettwanzen oder Ungeziefer? Wie wurde dabei vorgegangen?", sagt Çelik. "Aber ich würde jetzt generell keine großangelegte systematische Gefahr für Touristen sehen."
Im Blick auf Lebensmittelvergiftungen, die mittlerweile im Fall der Hamburger Familie nicht die Todesursache waren, rät der Mediziner, Obst und Gemüse entweder geschält oder gekocht zu verzehren – oder es andernfalls nicht zu essen. "Boil it, peel it or leave ist also die Devise. Das gilt immer und überall auf der Welt", sagt Çelik.