Ein Berliner Arzt wurde kürzlich wegen Totschlags verurteilt, nachdem er einer depressiven Frau bei ihrem Suizid assistierte. Experte Ingo Lenßen beleuchtet die rechtlichen Überlegungen, die zu dieser Verurteilung führten und erklärt, welche rechtlichen Implikationen sich daraus ergeben.
Welche rechtlichen Überlegungen führten zu der Verurteilung eines Arztes durch das Landgericht Berlin im Zusammenhang mit assistiertem Suizid?
Anfang April verurteilte eine Schwurgerichtskammer des Landgerichts Berlin einen 74-jährigen pensionierten Hausarzt wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren. Die Staatsanwaltschaft warf dem Arzt vor, einer 37-jährigen Studentin geholfen zu haben, Suizid auszuführen, obwohl er wusste, dass die Frau zu jenem Zeitpunkt unter Depressionen und Stimmungsschwankungen litt.
In Deutschland ist es so, dass jemand, der einem anderen hilft, sich selbst zu töten, nicht bestraft wird, wenn die Person, die stirbt, diese Entscheidung klar und überlegt getroffen hat. Der zentrale Punkt im Gerichtsverfahren war also nun, ob die Frau wirklich selbst und bewusst entschieden hatte, sich das Leben zu nehmen.
Das Gericht meinte nein. Es war der Auffassung, der Arzt hätte der Frau auf Grund ihrer psychischen Verfassung und ihrer kurzfristigen Meinungsänderungen am Morgen ihres Todes das tödliche Mittel nicht aushändigen dürfen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig und kann mit einer Revision vor dem Bundesgerichtshof angefochten werden.
Über Ingo Lenßen
Ingo Lenßen ist Fachanwalt für Strafrecht mit einer Kanzlei in Bodman-Ludwigshafen. Durch TV-Sendungen mit juristischem Hintergrund und mehreren Büchern ist er einem breiten Publikum bekannt. Im Frühjahr 2022 veröffentlichte er sein Buch "Der Knast-Guide", in dem er über den Alltag in deutschen Gefängnissen schreibt.
Wie entwickelte sich der Fall?
Das strittige Geschehen begann am 24. Juni 2021, als der Arzt der Frau auf ihre Bitte hin Tabletten mit Chloroquin übergab, die sie jedoch erbrach und überlebte, nachdem sie ins Krankenhaus und anschließend in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wurde. Während ihres Aufenthalts dort sprach sie mit dem Arzt über ihren gescheiterten Suizidversuch und ihren fortwährenden Sterbewunsch, wobei sie allerdings auch Lebenswünsche äußerte.
Nach ihrer Entlassung aus der Psychiatrie und einem Treffen in einem Berliner Hotelzimmer legte der Arzt der Frau eine Infusion mit einer tödlichen Dosis eines Medikaments. Sie selbst drehte das Rädchen der Infusion auf, wodurch das Medikament in ihren Körper gelangte und sie innerhalb weniger Minuten verstarb.
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Auf welcher Basis traf das Gericht seine Entscheidung bezüglich der Selbstbestimmung der Frau?
Das Landgericht musste nun entscheiden, ob die Frau überhaupt in der Lage war, die Tragweite ihrer Entscheidung realistisch abzuwägen. Für den ersten Vorfall wurde der Arzt freigesprochen, da das Gericht annahm, dass die Frau vielleicht noch in der Lage gewesen war, eigenständig zu entscheiden. Für das zweite Geschehnis jedoch wurde der Arzt verurteilt, da die Kammer davon ausging, dass er die fehlende Entscheidungsfähigkeit der Frau zwar erkannt hatte, es aber trotzdem zuließ, dass sie zur Tat schritt.
Der rechtliche Begriff für solch einen Fall ist "mittelbare Täterschaft“. Das bedeutet, dass jemand eine Straftat zwar nicht selbst ausführt, jemand anderen allerdings dazu bringt oder es nicht verhindert, dass jener sie ausführt. Im vorliegenden Fall entschied nun das Gericht, dass der Arzt die psychische Krankheit der Frau ausgenutzt hatte, um sie zur Selbsttötung zu bewegen.
Welche Rolle spielt die Überprüfung der Entscheidungsfähigkeit in solchen Fällen und welche rechtlichen Implikationen ergeben sich daraus?
Dieser Fall zeigt, wie wichtig es ist, die persönliche Entscheidungsfähigkeit in solchen extremen Situationen genau zu prüfen. Das Urteil unterstreicht, dass die Unterstützung beim Suizid nur dann nicht strafbar ist, wenn die Person klar und eigenständig entscheidet. Jede Beeinflussung, die diese Selbstbestimmung untergräbt, kann zu schwerwiegenden rechtlichen Konsequenzen führen.
Dieser Text stammt von einem Expert aus dem FOCUS online EXPERTS Circle. Unsere Experts verfügen über hohes Fachwissen in ihrem Themenbereich und sind nicht Teil der Redaktion. Mehr erfahren.