FOCUS online: Frau Braun, Sie helfen mit Ihrem Verein Ukrainern, in Deutschland anzukommen. Betroffene, die nach dem 1. April nach Deutschland geflüchtet sind, sollen rückwirkend kein Bürgergeld mehr bekommen, sondern werden wie Asylbewerber behandelt. Das betrifft ungefähr 83.000 Menschen. Was bedeutet die Änderung für Sie als Hilfsverein?
Anna-Maria Braun: Es kommt wahnsinnig viel Bürokratie auf uns zu. Die Jobcenter sind bei der Betreuung der Ukrainer raus. Die Sozialämter sind mit dieser Umstellung vollkommen überfordert. Das liegt aber nicht an den Aufgaben an sich, sondern auch an der Bürokratie. Der Einstieg in den Job wird für die Geflüchteten schwieriger. Letztendlich glaube ich, dass wir langfristig mehr sparen, wenn wir die Ukrainer im Bürgergeld belassen. Die idiotische Änderung von Friedrich Merz schadet den Mitarbeitern in den Sozialämtern und den Geflüchteten.
Kritik an Bürgergeld-Stopp für Ukrainer
Wie werden die betroffenen Ukrainer denn jetzt krankenversichert? Müssen sie fürchten, dass Behandlungen nicht bezahlt werden?
Braun: Bis sie versichert sind, kann es Monate dauern, weil die Sozialämter für die Krankenversicherung zuständig sind. Und es gibt übrigens auch schon jetzt so, dass die Geflüchteten erst zum Sozialamt gehen, ehe sie über das Jobcenter versichert werden. Ein Geflüchteter musste seine Chemotherapie unterbrechen, weil ihm die Krankenversicherung fehlte. Eine 17-Jährige, die im zweiten Monat schwanger allein aus der Ostukraine nach Deutschland geflüchtet war, brachte ihr Kind schließlich in Berlin zur Welt, regulär nach neun Monaten.
Eine Krankenversicherung hatte sie da immer noch nicht. In dem Fall musste die Klinik die Kosten vorschießen. Die Behandlung wurde hinterher von der Krankenkasse übernommen. Das ist unglaublich viel Papierkram. Wenn ein Ukrainer einen Krankenwagen ruft und er ist noch nicht krankenversichert, muss er die Behandlung erst mal aus eigener Tasche bezahlen und sich das Geld dann zurückholen. Er braucht dabei Hilfsorganisationen wie uns.
Junge Männer bis 22 Jahre dürfen aus der Ukraine ausreisen. Einige in Deutschland glauben, dass den Menschen in der Ukraine zu viele Anreize gegeben werden, um zu uns zu kommen. Was sagen Sie dazu?
Braun: Diesen Vorwurf halte ich für Blödsinn. Wenn ein übermächtiger Gegner wie Wladimir Putin auf Ihr Land seit fast vier Jahren Bomben abwirft, würden Sie auch fliehen. Niemand ergreift die Flucht freiwillig. Unter den Geflüchteten sind mehrheitlich Frauen und Kinder. Friedrich Merz kann ja mal seine Töchter fragen, wie sie bei Krieg reagieren würden, beziehungsweise sollte er mehr mit Betroffenen reden als mit seinen Töchtern.
Aber es geht um die jungen Männer, die ausreisen dürfen.
Braun: Unter ihnen sind aber auch welche, die schon gekämpft haben und schwer traumatisiert oder verletzt sind. Die können Sie nicht zurückschicken, um zu kämpfen.
Die Leser fragen sich dennoch, warum Männer überhaupt, auch die gesunden, die Ukraine Richtung Deutschland verlassen und nicht an die Front gehen.
Braun: Jeder sollte die Entscheidung selbst treffen, ob er an der Front kämpfen möchte oder nicht. Fragen Sie mal Bundeswehrsoldaten und sie werden hören, dass diese Entscheidung nicht einfach ist. Frauen, Mütter und Versehrte, der Großteil der Geflüchteten, können nicht an die Front. Wer bin ich denn als bräsiger Deutscher, dass ich sage: "Geh' du bitte an die Front“? Das hat mit christlichem Weltbild nichts zu tun.
Deutschland gibt Geld für Sozialleistungen aus und liefert gleichzeitig Waffen in Millionenhöhe an die Ukraine. Viele verstehen das nicht.
Braun: Deutschland verdient an der Produktion und vom Export der Waffen aber sehr gut, wie ich finde. Und laut des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung haben 51 Prozent der erwachsenen Ukrainer, die zwischen Februar und Mai 2022 nach Deutschland gekommen sind, inzwischen einen Job und zahlen Steuern.
Es heißt immer wieder, dass Ukrainer in Deutschland Sozialleistungen beziehen und mit dem Flixbus nach Kiew pendeln. Stimmt das oder ist das ein Vorurteil?
Braun: Es gibt Leute, die hier Leistungen beziehen und mit dem Flixbus in die Westukraine reisen. Aber dann besuchen sie Oma oder Opa, wenn die krank sind oder im Sterben liegen.
Mehr machen sie beim Ukraine-Besuch nicht?
Braun: Vielleicht besuchen sie noch ein paar Freunde. Aber sie reisen mit Angst im Nacken in die Ukraine und werden da sicher keine Schnappschüsse von Mariupol oder Cherson machen. Ein Urlaub ist diese Reise nicht.
Also ist es in der Westukraine sicherer, so dass man da leben kann, wenn auch ein Besuch möglich ist?
Braun: Die Westukraine ist sicherer, aber nicht sicher. Die Schule findet aus Angst vor Angriffen in Kellern statt, der Strom fällt ständig aus, es ist sehr kalt. Wer möchte so mit seinen Kindern leben?