FOCUS online: In Ihrem neuen Buch verarbeiten Sie Ihr ganz persönliches Drama: Sie haben eine schwere Infektion überlebt…
Schäfer: Genau. Mein Roman handelt auch von dieser Krankheit – vor allem aber davon, wie der Ich-Erzähler nach dem Überleben wieder ins Leben zurückfindet und begreift, dass das große Glück oft in den kleinen Momenten liegt. Die Krankheit ist im Buch nur der Auslöser – eigentlich geht es um Liebe, Verlust und das, was bleibt, wenn alles auf der Kippe stand.
FOCUS online: Der Ich-Erzähler, sagen Sie? Sind das nicht Sie?
Schäfer: Die Infektion habe ich tatsächlich selbst durchgemacht. Aber ich habe sie literarisch verarbeitet – das Buch ist kein Erfahrungsbericht, sondern ein Roman.
FOCUS online: Der Erzähler ist gerade auf dem Sprung in den Urlaub, da fühlt er sich plötzlich furchtbar krank.
Schäfer: Bis kurz davor ging es mir noch gut, ja. Dann plötzlich: hohes Fieber, Schüttelfrost, Zittern. Ich erinnere mich nicht, dass meine Zähne je so geklappert haben. Ich musste mich sofort hinlegen.
FOCUS online: Dachten Sie an einen Infekt?
Schäfer: Ich dachte an vieles. Meine Frau und ich gingen die letzten Tage durch: Was hatte ich gegessen, wo war ich gewesen? Nichts erklärte diesen Zustand. Erst als sie mich darauf ansprach, fiel mir der kleine Schnitt am Mittelfinger wieder ein – vom Zwiebelschneiden, zwei Tage vorher.
FOCUS online: War das ein tiefer Schnitt?
Schäfer: Kaum. Ein Zentimeter, vielleicht. Nichts Ungewöhnliches. Ich hatte mich schon oft beim Kochen geschnitten oder verbrannt. Aber diesmal pochte die Fingerkuppe, sie verfärbte sich rötlich, dann bildete sich Flüssigkeit. Es sah entzündet aus – doch dass so etwas lebensgefährlich sein kann, kam mir nicht in den Sinn.
FOCUS online: Tatsächlich war es das, wie man in Ihrem Buch erfährt. Der Schüttelfrost verschwindet zwar, aber der Finger wird immer dunkler - von rot zu violett, von violett zu schwarz. Und er schwillt fast auf das Doppelte an. Im Roman nehmen Sie uns dann mit ins Krankenhaus. Da waren Sie zum letzten Mal vor elf Jahren, als Ihre Tochter zur Welt gekommen ist, sagen Sie. An der Stelle beginnt man zum ersten Mal zu ahnen, dass Sie in ernsthafter Gefahr sind. Einen Stock weiter oben hatte Leben begonnen. Bei Ihnen beziehungsweise beim Erzähler könnte Leben zu Ende gehen – richtig?
Schäfer: Ja. Aber in dem Moment war mir das noch gar nicht bewusst. Das kam erst nach der Operation.
FOCUS online: Geplant ist eine Teilanästhesie des rechten Arms. Aber dann entdeckt der Anästhesist eine hellrote Linie, die sich vom Handgelenk bis zur Schulter zieht. Im Buch sagt der Arzt: „Das haben wir wohl alle übersehen“. Die Lymphbahnen seien stark entzündet, heißt es. Weiter sagt der Arzt: „Eine örtliche Betäubung können wir in dem Zustand vergessen“. Fakt ist: Die Krankheit endet in über 50 Prozent der Fälle tödlich. Welche Krankheit genau?
Schäfer: Die sogenannte nekrotisierende Fasziitis. Ich hatte den Begriff vorher nie gehört – eine seltene, aber extrem gefährliche Weichteilinfektion, bei der Gewebe abstirbt. Nach dem Eingriff kam eine Ärztin zu mir und sagte, eine Amputation des Fingers könne nicht ausgeschlossen werden.
FOCUS online: Das muss ein riesiger Schock gewesen sein.
Schäfer: Einerseits ja …
FOCUS online: Und andererseits?
Schäfer: Die Ärztin sagte: „Sie leben. Seien Sie dankbar.“ Das war der Moment, in dem ich begriff: Wäre ich nur ein paar Stunden später gekommen, wäre es vielleicht vorbei gewesen. Ich hatte mein Leben fast verloren – und plötzlich wiederbekommen.
Ich bin jetzt Sammler schöner Momente
FOCUS online: Was hat diese Erkenntnis mit Ihnen gemacht?
Schäfer: Sie hat meinen Blick verändert. Ich lebe seitdem anders als vorher.
FOCUS online: Bewusster?
Schäfer: Ich habe auch früher bewusst gelebt.
FOCUS online: Bewusst im Sinne von gesund?
Schäfer: Ja, ich ernähre mich einigermaßen ausgewogen, treibe regelmäßig Sport, war nie krank, habe im Job keinen Tag gefehlt. Aber darum geht es nicht.
FOCUS online: Um was geht es dann?
Schäfer: Darum, die Schönheit des Augenblicks zu erkennen – und das Leben wirklich zu leben.
FOCUS online: Und all das gelingt Ihnen jetzt besser als früher?
Schäfer: Ich war immer dankbar, aber heute brauche ich keine nächsten großen Ereignisse mehr, kein „bald“. Ich habe verstanden: Das Leben ist jetzt. Genau dieser Moment zählt.
FOCUS online: Viele Menschen, die schwer erkranken, fragen sich: Warum trifft es mich? Was habe ich möglicherweise falsch gemacht?
Schäfer: Das habe ich mich nicht gefragt. Ich habe jedoch begriffen, wie zerbrechlich alles ist – und wie schnell sich alles ändern kann. Von einer Sekunde zur nächsten.
FOCUS online: Wenn man sich anschaut, was Ihnen vor zwei Jahren passiert ist, ist das ein erschreckender Gedanke. Sollten wir alle ständig auf der Hut sein? Es könnte schließlich jeden Moment etwas Schreckliches passieren.
Schäfer: Mich hat die Krankheit zum Glück nicht ängstlicher gemacht, sondern offener. Nach einem Schicksalsschlag verändert sich der Blick aufs Leben. Man hält inne – und entdeckt, was im Alltag oft übersehen wird. Vielleicht wird man, wie ich, zum Sammler schöner Momente.
FOCUS online: Was meinen Sie damit konkret?
Schäfer: Ich nehme Dinge bewusster wahr. Wenn auf dem Handy steht: „Bring bitte einen Liter Milch mit“, denke ich nicht mehr: Warum ich? Sondern: Wie schön, dass ich Teil einer Familie bin, dass mich jemand braucht. Wenn man krank ist, wünscht man sich nichts sehnlicher, als wieder diesen ganz normalen Alltag zu haben – all das, was man sonst für selbstverständlich hält.
FOCUS online: Und jetzt sind Sie begeistert, wenn Sie einen Liter Milch mitbringen sollen?
Schäfer: Im Grunde ja. Es bedeutet, dass ich dazugehöre. Wissen Sie, was mich traurig machen würde? Wenn niemand da wäre, der mich um etwas bittet.
FOCUS online: Ist das nicht Zweckoptimismus?
Schäfer: Für mich nicht. Wenn man verstanden hat, dass sich alles von einem Moment auf den anderen ändern kann, lebt man bewusster, genießerischer. Kurz bevor ich damals krank wurde, saß ich mit einem Freund beim Kaffee – ein schöner Morgen, den ich damals kaum wahrnahm, weil ich schon daran dachte, was es noch alles zu erledigen gab. Heute bin ich viel mehr da. Natürlich fahre ich noch in den Urlaub, ärgere mich auch über Dinge. Aber ich lebe nicht mehr auf etwas hin. Ich bin im Jetzt.
FOCUS online: Wenn man zum Thema Nekrotisierende Fasziitis nachliest, erfährt man, dass das betroffene Körperteil – vereinfacht - aufgeschnitten und die Entzündung rausgenommen wird. Anschließend erfolgt eine Behandlung mit einem Antibiotikum. Wie lange hat es gedauert, bis Sie sich von all dem erholt haben?
Schäfer: Etwa ein halbes Jahr. So lange trug ich einen Verband und musste regelmäßig zur Kontrolle in die Klinik. Das Antibiotikum hat angeschlagen – mein Körper hat es geschafft.
FOCUS online: Das heißt, Sie haben keine Folgen davongetragen?
Schäfer: Der Finger ist krumm, hat eine Narbe und ist kälteempfindlich. Manchmal fühlt es sich an, als läge ein enger Gummiring darum. Aber er ist noch dran – und wir zwei haben Frieden geschlossen, der Finger und ich.
FOCUS online: Glauben Sie, Sie wären weniger schwer erkrankt, wenn Sie die Wunde direkt nach dem Schnitt desinfiziert hätten?
Schäfer: Das kann ich nicht sagen. Mein Buch ist auch kein Ratgeber. Es ist ein Roman über Wendepunkte, über das Wieder-ins-Leben-Finden – kein medizinisches Lehrbuch.
FOCUS online: Und doch berichten Sie im letzten Kapitel von diesem Moment, als Sie, beziehungsweise als der Erzähler an der Bushaltestelle steht und ein riesiges Plakat sieht: „Starke Schmerzen, Verwirrtheit, Fieber? Könnte es Sepsis sein? Wissen rettet Leben“. Es hätte sich angefühlt, als sei das Plakat dort speziell für ihn aufgehängt worden, sagt der Erzähler. Kurz darauf schreiben Sie, die Sepsis sei die dritthäufigste Todesursache in Deutschland. Jedes Jahr sterben 85.000 Menschen daran. Und dreiviertel aller Überlebenden tragen bleibende Schäden davon. Was wollen Sie damit sagen? Dass mehr über dieses Thema aufgeklärt werden müsste? Dass die Menschen auch bei kleinen Verletzungen wachsamer sein sollten?
Schäfer: Ich bin Schriftsteller, kein Mediziner. Ich möchte Menschen mit Geschichten berühren – Aufklärung überlasse ich den Fachleuten. Aber vielleicht kann ein Roman manchmal mehr bewegen als eine Broschüre.
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Bildquelle: park x Ullstein
Gerade ist alles gut
Stephan Schäfer erzählt in »Jetzt gerade ist alles gut« von der Sekunde, die alles verändert – und von den Momenten, die alles bedeuten. Ein tröstliches, ermutigendes Buch über das, was Leben ausmacht.