Am 3. Februar 2023 sagte mein Radiologe den Satz, der alles verändert: "Der Krebs hat gestreut."
Bis in die Lymphknoten, hoch zum Schlüsselbein. Die schlechte Nachricht: Er ist fortgeschritten.
Die gute: Er wurde noch rechtzeitig entdeckt. Ein halbes Jahr später wäre es wohl zu spät gewesen.
Ich erinnere mich, dass ich in diesem Moment nicht an mich dachte, sondern an uns. "Der Krebs ist jetzt auch in unserer Familie angekommen." Das war mein erster Gedanke. Keine Wut, keine Angst – nur diese sachliche, unerbittliche Feststellung.
Leben mit dem Prostatakrebs – aber nicht in ihm
Ich habe mich nie gefragt: "Warum ich?" Der Krebs war einfach da. Er hat sich uneingeladen in meinem Leben eingerichtet, als wolle er bleiben. Aber ich mache ihm den Gefallen nicht. Ich lebe mit dem Krebs, aber der Krebs ist nicht mein Leben.
Schon lange vor der Diagnose war ich in der "Movember"-Bewegung aktiv – jener weltweiten Initiative, die Männer dazu bringt, über ihre Gesundheit zu sprechen. Denn das tun wir zu selten.
Seit drei Jahren kuratiere ich im November Veranstaltungen: Vorträge, Info-Abende, Filmreihen, Fußballturniere – alles, um Bewusstsein zu schaffen.
Und dann kam die Idee zu etwas, das größer werden sollte als alles zuvor: eine Performance.
18 Stunden, 3 Minuten, 20 Sekunden – 65.000 Sekunden Leben
Prostatakrebs ist die häufigste Krebsart bei Männern. Etwa 65.000 Männer erhalten jedes Jahr ihre Diagnose. Ich wollte diese Zahl fühlbar machen. Also setzte ich mich – im wörtlichen Sinn – hin.
"18:03:20" nannte ich die Performance. 18 Stunden, 3 Minuten und 20 Sekunden – genau 65.000 Sekunden. Eine Sekunde für jeden Mann, der in diesem Jahr erfährt, dass er Prostatakrebs hat.
Prostatakrebs
Prostatakrebs ist die häufigste Krebserkrankung bei Männern. Jedes Jahr erkranken mehrere Zehntausend, allein im Jahr 2022 waren es rund 75.000 in Deutschland. Die Zahlen steigen, was allerdings vor allem an den besseren Methoden zur Früherkennung liegt. Experten empfehlen Männern ab 45 Jahren eine Vorsorgeuntersuchung, auch wenn keine Beschwerden vorliegen. Denn typische Warnzeichen gibt es nicht, im Frühstadium bleiben die Symptome oft aus.
Sind Familienmitglieder bereits an Prostatakrebs erkrankt oder treten Schmerzen beim Wasserlassen, Stuhlgang oder Geschlechtsverkehr auf, sollten sie sich schon früher checken lassen.
Hinter mir: ein Zähler, der unaufhaltsam von 0 bis 65.000 hochläuft. Vor mir: ein Stuhl. Der Ort der Begegnung. Der Spiegel. Und ich selbst, regungslos, still, bereit, jedem in die Augen zu sehen, der sich traut, mir gegenüber Platz zu nehmen.
Freitag, 31. Oktober 2025 – Tag eins
Das FatCat Kulturzentrum in München. Beton, Glas, Stille. Ich starte den Zähler. Setze mich. Atme.
Die ersten Stunden geschieht nichts. Ich sitze in der Kälte und spüre, wie mein Körper zittert. Die Welt um mich herum zieht vorbei: Schritte, Stimmen, Lichtwechsel. Ich bin ganz da – und gleichzeitig außerhalb der Zeit.
Ich habe keine Uhr, keine Musik, keine Ablenkung. Nur das langsame Wandern des Lichts über die Fassade gegenüber. Mein Körper wird zum Messinstrument. Er zeigt mir, wie laut Stille sein kann.
Dann, am Abend, sehe ich sie: drei Gestalten auf der Treppe. Familie. Einer nach dem anderen setzt sich. Wir reden nicht. Wir sehen uns einfach an. Minutenlang. Wortlos. So still kann Nähe sein. Später schreibt meine Ex-Frau auf eine Karte: "Konntest du meine Gedanken lesen?" Nein – aber in diesem Moment hätte ich schwören können, dass wir dasselbe dachten.
Samstag, 1. November 2025 – Tag zwei
Ich bin ruhig. Fokussiert. Aber der Raum bleibt leer. Unter mir läuft das Leben: Stimmen, Kaffeeduft, Tischtennis, Gelächter. Ich sitze da und frage mich: "Wofür mache ich das? Interessiert das hier überhaupt jemanden?"
Ich bin kurz davor, aufzustehen. Aber dann kommt der Gedanke: Vielleicht geht es nicht darum, gesehen zu werden – sondern darum, zu wirken, auch wenn man nicht gesehen wird.
Dann, plötzlich, setzt sich jemand. Ein Mann, etwa in meinem Alter. Er sieht mich an, schließt die Augen, öffnet sie wieder, flüstert: "Danke." Dann steht er auf. Später erfahre ich, dass er in den letzten zwei Jahren drei Freunde an Krebs verloren hat. Weil sie zu spät zum Arzt gingen. Und ich begreife: genau dafür sitze ich hier.
Sonntag, 2. November 2025 – Tag drei
Der dritte Tag beginnt gespenstisch still. Das Café im Erdgeschoss ist geschlossen, die Hallen leer. Nur ich, das Team – und der Stuhl mir gegenüber. Ich nenne ihn meinen Verbündeten. Er steht für alles, was nicht gesagt wird: Begegnung. Abwesenheit. Erwartung. Erinnerung. Manchmal sitzt dort ein Mensch. Oft sitzt dort nur ein Gedanke. Mir fällt ein Titel für die Dokumentation ein: "Wie bei Marina Abramović – nur ohne Publikum."
Gegen Ende kommen doch noch Menschen. Ein älteres Paar. Zwei junge Frauen. Ein Blick, ein Nicken, ein stilles Einverständnis. Ich merke: Manchmal erreicht man mehr Menschen, wenn sie gar nicht da sind. Denn die, die bewusst nicht gekommen sind, haben sich trotzdem mit der Frage beschäftigt.
Wieso das zählt: Prostatakrebs ist heilbar
In diesen drei Tagen habe ich mehr über Geduld gelernt als in vielen Jahren zuvor. Ich habe verstanden, dass Gleichmut die Schwester von Mut ist. Und dass man nichts verändern kann, wenn man Leere nicht aushält.
65.000 Sekunden – 65.000 Schicksale. Jede einzelne Sekunde steht für einen Mann, der gerade erfährt, dass er Krebs hat. Manche haben Glück. Andere haben keine Zeit mehr. Ich war einer von ihnen. Aber ich habe entschieden, es nicht dabei zu belassen.
Prostatakrebs ist, früh erkannt, heilbar. Aber viele Männer gehen zu spät zum Arzt. Aus Angst. Aus Scham. Aus Stolz. Dieses Schweigen kostet Leben.
Deshalb sitze ich. Deshalb schreibe ich. Deshalb spreche ich darüber. Weil jeder Mann, der rechtzeitig zum Arzt geht, vielleicht einer weniger ist, der zu spät kommt. Und weil jede Spende hilft, Bewusstsein zu schaffen. Denn jeder Mann zählt.
"Movember" ist eine weltweite Bewegung, die Aufmerksamkeit auf Themen der Männergesundheit lenken will. Die Teilnehmer lassen im November klassisch einen Schnurrbart wachsen – der "Movember" setzt sich aus dem englischen Wort für Schnurrbart "Moustache" und "November" zusammen. Sie sammeln unter anderem Spenden für die Movember Foundation, die diese für entsprechende Projekte einsetzen.
Die "Munich Movemberists" wollen als Team gemeinsam Bewusstsein schaffen, Forschung fördern und Leben verbessern. Dafür sammeln sie Spenden.