FOCUS online: Frau Tilgner, Sie leben und arbeiten als so genannte „Digitale Nomadin“. Wo erreichen wir Sie gerade?
Liz Tilgner: In Chiang Mai, Thailand, in einer schönen Wohnung, die ich mir in einem Häuserkomplex gemietet habe. Oben auf dem Dach gibt es ein Gym, einen Pool und einen Co-Working-Space.
Das klingt nach Luxus…
Tilgner: Aber für die Miete könnte ich mir in Stuttgart, wo ich herkomme, gerade mal ein kleines Zimmer in einer Wohngemeinschaft leisten. Das ist wirklich charmant hier in Asien: Man bekommt einen relativ hohen Lebensstandard für relativ wenig Geld.
In Deutschland liegen die Temperaturen heute um 13 Grad, der Himmel ist grau. Wie ist es bei Ihnen?
Tilgner: Aktuell haben wir 30 Grad. Die „Rainy Season“ geht gerade zu Ende, jetzt kommt die schönste Zeit. Nicht nur klimatisch. Auch das Lichterfest steht bevor. Ich freue mich, das zu erleben: Die beleuchteten Tempel, die vielen bunten Lampions in der Luft…
Klingt fast ein bisschen, als wären Sie im Urlaub.
Tilgner: Es ist wirklich sehr schön hier. Chiang Mai liegt in einem Tal, umgeben von Wald, von Dschungel, von ganz viel Natur. Es gibt Tempel, die man besichtigen kann. Oder auch Elefantenschutzgebiete, die sicher einen Besuch wert sind. Am Wochenende steht bei mir die Erkundung der umliegenden Dörfer auf dem Programm. Mit der Vespa.
Und unter der Woche wird stramm gearbeitet?
Tilgner: Ja, der Alltag will gut strukturiert sein. Das liegt auch daran, dass meine Kunden – ich arbeite B2B im Bereich Personal Brand – in Deutschland sitzen. Wenn es in Deutschland acht Uhr morgens ist, ist bei uns 13 Uhr.
Das heißt?
Tilgner: Teile meiner Freizeit lege ich in den Vormittag. Ich starte mit Stretching in den Tag, hole mir dann erst mal unten am Empfang einen Kaffee und gehe dann aufs Dach und mache Sport. Die Kundengespräche starten in der Regel um 14 oder 15 Uhr hiesige Zeit – und gehen für mich oft bis spät in den Abend. Es ist üblich, dass ich erst um 21 Uhr Feierabend mache. In Ausnahmefällen sitze ich auch mal bis morgens um zwei am Rechner.
In Deutschland sieht das Leben der meisten Menschen in Ihrem Alter ganz anders aus.
Tilgner: Das stimmt, da gibt es viel mehr Routine. Wenn man in zweieinhalb Jahren zwölf Länder bereist, bleibt das aus.
Sie waren schon in zwölf Ländern?
Tilgner: Ich bin immer maximal zwei bis drei Monate an einem Ort. Vietnam, Singapur oder Kambodscha waren Stationen. Ich war aber auch schon auf Zypern, in Österreich oder in England.
Über Auswanderin Liz Tilgner
Nach einem Masterstudium in Logistik arbeitet Liz Tilgner zunächst in der Kundenbetreuung eines Unternehmens. Eine monotone Arbeit, die ihr keine Erfüllung bringt, sagt sie rückblickend. Ende 2022 stirbt ihr Opa. Sie fasst den Entschluss auszuwandern. Ihr erster Aufenthalt führt Tilgner im November 2023 für drei Monate nach Malaysia. Mittlerweile ist sie selbstständig und hilft Kunden dabei, auf Online-Plattformen sichtbarer zu werden. Auf YouTube berichtet die „Digitale Nomadin“ von ihren Reisen.
Doch zurück zu meinen Altersgenossen in der Heimat: In meinem Umfeld gehen tatsächlich viele den – ich nenne es jetzt mal – klassischen Weg. Ich denke da zum Beispiel an einen Freund, er ist Beamter. Da stehen natürlich von Haus aus ganz andere Werte im Vordergrund. Sicherheit. Stabilität. Der Freund möchte sich eine Immobilie kaufen, hat einen Sparplan. Seine Partnerin und er wissen seit vier Jahren, dass sie 2027 Kinder kriegen wollen.
Und wie ist es bei Ihnen?
Tilgner: Ich bin mehr im Fließen, würde ich sagen. Wann immer ich mit Menschen in der Heimat in Kontakt bin, merke ich hinterher ein Aufatmen. Mir wird dann immer klar, wie krass anders mein Lifestyle doch ist. Trotzdem: Auch ich bin jemand mit einem großen Sicherheitsbedürfnis. Allerdings interpretiere ich Sicherheit heute komplett anders als noch vor Kurzem.
Nämlich?
Tilgner: Bevor ich Deutschland verlassen habe, habe ich Sicherheit vor allem im Außen gesucht. Alles habe ich nach möglichen Back-ups abgecheckt. Das aufzugeben war erstmal sehr schwierig. Natürlich habe ich noch die Familie, aber wer will wirklich zu seinen Eltern gehen und nach Geld fragen, wenn's hart auf hart kommt? Und was wäre, wenn ich beispielsweise krank würde? Spoiler: Ich wurde es…
Anfang März 2024 hatte ich eine Mandelentzündung, die ich allerdings erst mal ignoriert habe. Die Infektion hat mein Herz und meine Nieren angegriffen. Es kam zu einer Not-OP. In Kambodscha!
Inzwischen hatte ich meinen Freund kennengelernt, das Ganze passierte auf Reisen. Es war furchtbar. Zehn Tage nach der OP ist die Wunde an der Arterie aufgegangen. Mitten in der Nacht. Ich habe jede Menge Blut geschluckt und gespuckt. Die Folge: Eine weitere Not-OP. Ich glaube, ich war dem Tod ganz schön nah.
Im Anschluss saß ich zwei Wochen lang im Rollstuhl. In dieser Zeit habe ich mehrfach daran gedacht, abzubrechen, zurück nach Deutschland zu gehen und bin sehr dankbar, dass ich meinen Freund an meiner Seite hatte, der mich durch die Zeit begleitet und mir viel geholfen hat. Was mache ich hier eigentlich? habe ich mich damals immer wieder gefragt. Und: Vielleicht soll es einfach nicht sein dieses Leben? Jedenfalls nicht für mich.
Wie ging es weiter?
Tilgner: Im Sommer 2024 kamen weitere Prüfungen. Ich hatte plötzlich Wasser im Herzen, eine Herzmuskelentzündung. Möglicherweise eine Folge der Infektion. Ich bekam Panikattacken. Die Überlegung, abzubrechen, wurde lauter…
Aber?
Tilgner: Ich bin nach dem Tod meines Opas Ende 2022 ausgewandert. Er hatte fünf Kinder und 13 Enkel. Er hat also einiges hinterlassen. Vor allem diese Botschaft an uns, seine Enkelkinder: „Was ich für wichtig halte: Sucht euch einen Weg, auf dem ihr nicht fremdbestimmt seid. Dann werdet ihr Spaß haben und Erfolg“ Sogar in seinem Testament hat mein Opa diesen Wunsch hinterlassen.
Ganz ähnlich wie am Grab meines Opas spürte ich nach der OP, dass ich mich entscheiden muss. Dass nicht die Umstände entscheidend sind, sondern mein Inneres und seine Ausrichtung. Nachdem ich körperlich wieder einigermaßen stabil war, habe ich angefangen, mein Mindset zu ändern. Mithilfe von therapeutischer Arbeit und Coachings. Vereinfacht gesagt: Ich habe begonnen, nicht mehr gegen Dinge zu kämpfen. Gegen Strukturen, gegen Vorstellungen. Ich kämpfe jetzt für. Ich glaube, genau das wollte mein Opa mir mitgeben.
Können Sie ein Beispiel für Ihr verändertes Mindset geben?
Tilgner: Letztlich kommt man da wieder zum Thema: Sicherheit. Früher hätte ich gesagt: Ich darf bloß nicht krank werden. Ich darf mich auf keinen Fall außerhalb des deutschen Gesundheitssystems behandeln lassen. Heute würde ich nicht sagen: Ich darf nicht. Sondern: Ich möchte. Ich möchte gesund sein. Ich möchte mich wohl fühlen. Ich möchte vertrauen können. Sicherheit bedeutet für mich inzwischen vor allem eins: Selbstbestimmt zu sein. Ich habe gelernt, dass ich echte Sicherheit vor allem in mir selbst finde, nicht im Außen. Thailand ist übrigens ein gutes Umfeld für dieses Learning.
Warum?
Tilgner: Es ist interessant zu beobachten, wie die Menschen hier mit Herausforderungen umgehen. Das Land ist ja eine militärbasierte Monarchie. Immer wieder gibt es Aufbrüche in Richtung Demokratie, die aber unterdrückt werden. Doch die Leute verzagen dann nicht. Sie stehen auf, machen weiter. Letztes Jahr gab es hier eine riesige Überschwemmung, und im April dieses Jahres ein Erdbeben. Da war es genauso. Die Leute machen ganz schnell was aus der veränderten Situation. Dieser Spirit, die Leichtigkeit und Flexibilität, das überträgt sich. Zumindest wenn man sich öffnet, sich einlässt, glaube ich. Ich lerne im Moment die thailändische Sprache…
Leichtigkeit – beschreibt dies Ihr Lebensgefühl gleich zu Beginn?
Tilgner: Nein, das hat gedauert, ich musste mich damit erst anfreunden. Malaysia ist ein hauptsächlich muslimisch geprägtes Land, eine ganz andere Kultur. Dazu die andere Zeitzone und die enorme Entfernung von der Heimat. Die ersten zwei Monate waren sehr herausfordernd. Ich erinnere mich zum Beispiel an Silvester. Da war niemand, mit dem ich feiern konnte.
Zwei Tage vorher habe ich irgendwelche Backpacker kennengelernt. Wir verabredeten uns für den 31. Dezember abends in Downtown. Ein bisschen Feuerwerk gucken, die beleuchteten Gebäude bestaunen, das war es. Nach kurzer Zeit bin ich nach Hause, habe meine Eltern angerufen, in Deutschland war es noch Mittag. Dann bin ich ins Bett. Ziemlich deprimierend.
Kommt es für Sie in Zukunft in Frage, irgendwo für immer zu bleiben?
Tilgner: Warum nicht? Es hat doch was Schönes, sich irgendwo einzurichten. Letzte Woche habe ich mich mit meinem Freund verlobt. Wir sprechen viel darüber, wie wir weitermachen wollen, auch er ist Deutscher und auch er arbeitet Remote. Thailand ist für uns beide in Sachen Niederlassen sehr weit oben auf der Liste. So wie ein paar andere Länder im südostasiatischen Raum.
Deutschland ist keine Option?
Tilgner: Auf keinen Fall. Das heißt aber nicht, dass ich nicht ab und zu gerne auf Besuch komme. Wegen der Familie, der Freunde und – ja – auch wegen meinem Opa, mit dem das alles begonnen hat.