Messerangriff auf Iris Stalzer: Strafrechtler kritisieren Justiz-Entscheidung scharf

Auch Tage später wühlt dieses Verbrechen Deutschland auf: Am 7. Oktober 2025 wurde die neu gewählte Bürgermeisterin von Herdecke, Iris Stalzer (SPD), in ihrem Wohnhaus durch insgesamt 13 Messerstiche lebensgefährlich verletzt. Mit einem Rettungshubschrauber wurde die 57-Jährige in eine Klinik geflogen.

Der dringende Tatverdacht richtet sich gegen Stalzers 17 Jahre alte Adoptivtochter, die laut Ermittlern selbst den Notruf absetzte. Gemeinsam mit dem Adoptivsohn (15) wurden sie zunächst vorläufig festgenommen und später dem Jugendamt übergeben.

Messerangriff auf Iris Stalzer (SPD): Kein Haftbefehl gegen Stieftochter (17)

Für viele überraschend: Die Staatsanwaltschaft Hagen beantragte keinen Haftbefehl gegen die 17‑Jährige. Begründung: Es lägen keine Haftgründe wie Flucht‑, Verdunkelungs‑ oder Wiederholungsgefahr vor. Außerdem bewerte man die Tat rechtlich eher als gefährliche Körperverletzung und damit nicht als Tötungsdelikt. Das Absetzen des Notrufs spreche gegen einen Tötungsvorsatz beziehungsweise für einen Abbruch des Geschehensverlaufs, hieß es. 

Hinzu kommt, dass bei Jugendlichen ein noch strengerer Maßstab gilt. Demnach darf Untersuchungshaft nur dann angeordnet werden, wenn ihr Zweck nicht durch mildere Maßnahmen erreicht werden kann, etwa durch die Unterbringung in anderen Einrichtungen. Das sei in diesem Fall geschehen, so die Überzeugung der Behörde.

Mittlerweile regt sich an der Einschätzung der Staatsanwaltschaft massive Kritik. Renommierte Strafrechtsexperten sprechen von einer fatalen Fehleinschätzung und fordern eine Korrektur der bisherigen Linie. 

Zumal jetzt bekannt wurde, dass Iris Stalzer vor der Messertat offenbar stundenlang im Keller ihres Hauses gefoltert wurde. So soll ihre Adoptivtochter versucht haben, ihre Mutter mit Deospray und einem Feuerzeug anzuzünden. 

Strafverteidiger Adam Ahmed: "Für mich unverständlich"

Der bekannte Münchner Strafverteidiger Adam Ahmed – zu seinen Fällen gehören der Doppelmord in Krailling (2011), der Mord an Rudolph Moshammer (2005) und der Mord an der 12-jährigen Vanessa aus Gersthofen bei Augsburg (2002) – äußerte sich gegenüber „Welt TV“ skeptisch zur Bewertung der Staatsanwaltschaft.

Er sagte: „Ich gönne jeder Beschuldigten und jedem Beschuldigten eine faire Behandlung, aber das kann ich nicht nachvollziehen. Weshalb hier kein Haftbefehl wegen versuchten Totschlags oder sogar versuchten Mordes erlassen wurde, ist für mich unverständlich.“

Zur Begründung der Behörde, die 17-Jährige habe ja den Notruf gewählt und sei damit von der Tat zurückgetreten, sagte Adam Ahmed: „Bei mindestens 13 Messerstichen spricht man als Strafrechtler von einem Vernichtungswillen – wäre die Tat vollendet worden, könnte man sogar von einer Übertötung sprechen. Nun haben wir keine Vollendung, weil der Notruf gewählt wurde. Juristisch entscheidend ist: War der Rücktritt freiwillig oder nur Kalkül?“

„Der Notruf wirkt nicht spontan, sondern durchdacht"

Der Verteidiger erklärt: „Wenn der Notruf nicht freiwillig, sondern Teil einer Täuschung war, dann liegt kein strafbefreiender Rücktritt vor – und damit zumindest ein versuchter Totschlag.“

Aus Ahmeds Sicht spricht vieles für eine geplante Tat. „Der Notruf wirkt nicht spontan, sondern durchdacht.“ Auch zeitlich zurückliegende Konflikte zwischen Mutter und Adoptivtochter, von denen das Jugendamt wusste, spielten in die Einordnung des Falles hinein. „Es kann sogar für die Bewertung von Mordmerkmalen relevant sein.“

Ahmed erklärte gegenüber „Welt TV“ weiter, entscheidend werde sein, „ob das Justizministerium als weisungsbefugte Stelle eingreift – auch wegen des öffentlichen Drucks“. Der Rechtsanwalt: „Es ist für niemanden nachvollziehbar, dass man hier nur von gefährlicher Körperverletzung und einem Rücktritt ausgeht. Eine Weisung des Ministeriums wäre aus meiner Sicht angemessen, um den Fall neu zu bewerten.“

Anwalt Hans Reinhardt spricht von "krasser Gewaltanwendung"

Der Strafverteidiger Hans Reinhardt aus Marl sieht die augenblickliche Haltung der Staatsanwaltschaft ebenfalls kritisch. Gegenüber der „Bild“-Zeitung sagte er zum Notruf, der als „Rücktritt von der versuchten Tat“ bewertet wird: „Maßgeblich ist die Vorstellung des Täters bei Abbruch der Tathandlung. Der Täter muss sich also darüber subjektiv im Klaren sein, dass seine Tathandlung, wenn er jetzt aufhört, nicht zum Tod des Opfers führen wird.“

Reinhardt: „Dies halte ich im vorliegenden Fall für äußerst zweifelhaft, angesichts der krassen Gewaltanwendung. Zudem soll die Täterin ja auch erst noch Spuren verwischt und die Polizei auf eine falsche Fährte gelockt haben.“ 

Juristisch bedeutet ein „Rücktritt vom Versuch“: Wer freiwillig die weitere Tatausführung aufgibt (unbeendeter Versuch) oder die Vollendung verhindert (beendeter Versuch), wird wegen des Versuchs nicht bestraft. Ob ein abgesetzter Notruf als ausreichende Verhinderungshandlung oder ernsthaftes Bemühen gilt, ist in jedem Einzelfall zu prüfen.