Wie die Beatles Amerika befreiten: Neue Doku mit nie gezeigtem Film-Material

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Die Beatles sind da! (Mitte, im Uhrzeigersinn) George Harrison, John Lennon, Paul McCartney und Ringo Starr begrüßen am 7. Februar 1964 5000 Fans und 200 Journalisten auf dem Flughafen JFK in New York. © Apple Corps.

Der fulminante Dokumentarfilm „Beatles ‘64“ beleuchtet die erste Reise der Burschen aus Liverpool in die USA. Sie holten ein ganzes Land aus der Depression.

Das Mädchen hat keinerlei Kontrolle mehr über seine Mimik. „Ich war im ersten Stock! Und sie waren da! Und der Polizist hat mich rausgeschmissen!“, stammelt es einer Traube Gleichaltriger vor dem Plaza Hotel in New York City entgegen. Eine andere hatte mehr Glück. „Paul hat mich berührt!“ Sie strahlt in die Kamera. „Er hat seine Hand in meine gelegt!“ Jetzt ist sie den Tränen nahe, nein, sie lacht. Kein Zweifel: Sie könnte auf der Stelle tot umfallen und hätte doch ein erfülltes Leben gehabt.

Man ist in „Beatles ‘64“ so nah dran, dass es einen von der Couch reißt

Man kennt die Aufnahmen von der Ankunft der Beatles am 7. Februar 1964 in den USA, die Massen von kreischenden Teenagern. Die wohl größte Sensation der fulminanten Dokumentation „Beatles ’64“ (ab heute exklusiv auf Disney+) ist allerdings, dass diese Teenager plötzlich ein Gesicht bekommen, dass man ihre Begeisterung 2024 mit Händen greifen kann. Produziert (neben anderen) von Martin Scorsese und unter der Regie von David Tedeschi, enthält der Film seltenes, restauriertes Material von Albert und David Maysles, die die Fab Four aus Liverpool in den 14 Tagen ihres Aufenthalts mit der Kamera begleiteten und mit Fans auf der Straße sprachen. Man ist so nah dran, dass es einen von der Couch reißt. Dem gegenüber stehen aktuelle Interviews mit grauhaarigen Fans von damals. Etwa dem Autor Joe Queenan, der mit feuchten Augen über die Ankunft der Beatles sagt: „Wir lebten in totaler Dunkelheit. Und dann ging das Licht an.“

Auch das macht der Film deutlich: Die USA stehen unter Schock. Am 22. November 1963, dem Tag, an dem mit „With the Beatles“ das zweite Album der Band in die englischen Läden kommt, wird Präsident John F. Kennedy erschossen. Die freche Musik und die Unbekümmertheit der Band scheinen eine Lücke zu füllen. Und sie trägt doch schon den Kern kultureller Befreiung in sich, die sich in den Sechzigern Bahn brechen wird. Die Beatles, konstatiert die „New York Times“ ganz richtig, seien „das Sprachrohr der neuen, lauten Anti-Establishment-Generation. Im Vergleich wirkt Elvis Presley wie ein zurückhaltender edwardianischer Tenor.“ Die Last, die da auf ihren Schultern ruht, erkennen die vier freilich nicht. „Wir waren im Auge des Hurrikans“, sagt John Lennon in einem späteren Interview. „Was geht denn hier ab – mehr ist uns damals dazu nicht eingefallen.“

„Sogar die Kriminellen machten Pause“: Bei Ausstrahlung des Beatles-Auftritts wurden angeblich keine Straftaten verzeichnet

Sie schlagen ein wie eine Bombe. Ihren ersten Auftritt bei der populären Ed-Sullivan-Show am 9. Februar schauen sich schätzungsweise 73 Millionen Menschen an, eine Einschaltquote von 72,7 Prozent. „Später sagten sie, dass zu dieser Zeit keine einzige Straftat verzeichnet worden sei“, erinnert sich George Harrison schmunzelnd in einem Interview. „Sogar die Kriminellen haben zehn Minuten Pause gemacht, als wir im Fernsehen kamen.“

Der erste Auftritt der Beatles 1964 in der Show von Ed Sullivan (li.).
73 Millionen Menschen sahen den ersten Auftritt der Beatles in der Show von Ed Sullivan (li.). © Universal / Apple Corps.

Was nicht bedeutet, dass die vier von allen wohlgelitten sind. Das Gros der Presse macht sie wegen ihrer Wischmopp-Frisuren verächtlich, ein Kommentator vergleicht die Symptomatik bei Teenagern mit den Röteln. Im Film sieht man die Begeisterung der Jugendlichen oft kontrastiert vom völligen Unverständnis der Eltern. „Die Beatles waren komplett harmlos und nett“, erinnert sich Joe Queenan. „Aber nicht für die Erwachsenen, für die waren sie das Ende. Denn sie ermunterten uns dazu, eine gute Zeit zu haben.“

Erotische Träume und Raserei: Die Beatles verkörperten eine neue, softe Art von Männlichkeit

Auch in sexueller Hinsicht, betont Jamie Bernsein, Tochter des Komponisten und Dirigenten Leonard Bernstein, der die Band von Anfang an gegen Kritiker verteidigte. Sie berichtet von einem erotischen Traum mit George Harrison. „Er bemerkte, dass ich einen BH trug und küsste mich auf die Wange.“ Der Grund für die Raserei der weiblichen Fans sei auch gewesen, dass die Beatles keine aggressive Männlichkeit verkörperten, sagt die Schriftstellerin Jane Tompkins. „Sie waren soft.“ John Lennon unterstreicht das: „Die Eltern mochten Rock’n’Roll nicht, weil er von der schwarzen Musik kam und viele sexuelle Zweideutigkeiten beinhaltete. Bei uns war das weniger ausgeprägt – wir sind Engländer.“

Dennoch betont etwa Soul-Legende Smokey Robinson, wie wichtig die Ankunft der Beatles auch für die Schwarzen in Amerika war. „Wenn wir zuvor in großen Hallen spielten, saß auf der einen Seite das weiße, auf der anderen Seite das schwarze Publikum. Nach den Beatles gab es diese Rassentrennung nicht mehr.“

Zuvor hatten sie noch so etwas wie ein Privatleben gehabt, jetzt gehören die Fab Four plötzlich der ganzen Welt

Neben diesen gesellschaftspolitischen Themen porträtiert „Beatles ’64“ aber einfach vier wahnsinnig lustige Typen, die sich langweilen. In Hotelzimmern, auf Zugfahrten, bei Pressekonferenzen, im Auto, von Fan-Meuten gejagt – Szenen, die sie wenige Wochen später im Film „A hard Day’s Night“ verewigen würden. Die jungen Burschen, die zuvor noch so etwas wie ein Privatleben gehabt hatten, gehören plötzlich der ganzen Welt. Doch auch die Drogen-Exzesse späterer Jahre liegen noch fern. Sie sind eine Winston-Zigaretten qualmende, eingeschworene Gemeinschaft, deren Zufluchtsort die Bühne ist, auf der allein sie richtig aus sich rausgehen kann.

Ein ungewöhnlich klarsichtiger Journalist fragt in einer Szene Paul McCartney, welchen Einfluss die Beatles seiner Meinung nach auf die westliche Kultur haben. „Sie stellen ja lustige Fragen“, antwortet der 21-Jährige. „Wir sind doch nicht Kultur, wir sind ein großer Spaß.“ Wie falsch er damals lag, weiß der alte Macca, der an anderer Stelle wehmütig die Fotos anschaut, die er selbst 1964 geschossen hat. Was er den verstorbenen John Lennon und George Harrison gerne sagen würde, wird er gefragt. „Dass ich sie liebe“, antwortet er. „Wir kommen aus dem Nachkriegs-Liverpool, damals hat man sich so was nicht gesagt. Aber wir liebten uns. Wir waren Brüder.“

US-Alben der Beatles wiederveröffentlicht

In den USA kamen die Beatles auch auf Schallplatte verspätet an. „Meet the Beatles“, das erste US-Album der Band, erschien wenige Tage vor der Premiere der Fab Four in der Neuen Welt, im Januar 1964. Parallel zur Dokumentation „Beatles `64“ sind die ersten sieben Alben der Band bis ins Jahr 1965 nun wieder erschienen – von den Original-Masterbändern analog für audiophiles 180-Gramm-Vinyl geschnitten. Sie unterscheiden sich deutlich von ihren englischen (und deutschen) Äquivalenten. Denn die Firma Capitol schnitt sie speziell auf den amerikanischen Markt zu – addierte Single-Hits, ließ Songs weg, verwendete andere Abmischungen. Diese Methode ist oft kritisiert worden, war sie doch nicht im Sinne der Band. Doch sind so ganz eigene Sammlerobjekte entstanden – die im knackigen Mono-Mix auch noch sagenhaft klingen. Die Beatles haben später intelligentere, bessere Musik gemacht. Aber ihre jugendliche Energie und Unschuld nehmen noch heute gefangen.

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