Das Ensemble „Familie Flöz“ spielt sich in die Herzen der Kemptener

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Masken, die die Welt bedeuten: Viele Emotionen trotz starrer Mimik weckten die Schauspieler der internationalen Company „Familie Flöz“ bei den Zuschauern im voll besetzten Stadttheater. © Fischer

Die tragisch-komische Geschichte der „Familie Flöz“ über die Jagd nach dem individuellen Glück begeisterte das Publikum im Kemptener Stadttheater.

Kempten – „‚Flöz‘ bezeichnet im Jargon des Bergbaus die Bodenschichten, in denen wertvolle Rohstoffe eingelagert sind“, liest man auf der Webseite der Künstlergruppe. Um diese Schichten im menschlichen Leben freizulegen, entschied sich Regisseur Michael Vogel für einen Perspektivenwechsel: Der in romantischen Bildern dargestellten Vorgeschichte einer Beziehung, die zum Hochzeitsfest führt, folgt nicht die Darstellung von Glanz und Glamour am Tag der Feier. Stattdessen erleben die Zuschauer im Stadttheater den Tag aus der Hinterhofperspektive.

Familie Flöz bringt die Kemptener zum Lachen

Hinter den Kulissen werden Varianten des menschlichen Scheiterns vielfach sichtbar, dem die Familie Flöz im Leben „die heimliche Hauptrolle“ zuschreibt. Dazu gehören etliche slapstickartige Einlagen, die das Publikum zum Lachen bringen: Der Koch lässt die Figuren der Hochzeitstorte aus dem Fenster fallen, unberechenbare Stromschläge hindern den Hausmeister an der Reparatur einer Lampe, die Kleidung des Managers wird durch die Hinterlassenschaften des Haushundes unbrauchbar gemacht, der Schneider stolpert mit dem Brautkleid über das Warnschild der Putzfrau. Aber es mehren sich die Anzeichen, dass das Scheitern tiefgreifender ist: Bereits in der Hochzeitsnacht hat der Bräutigam der Braut nichts mehr zu sagen und wendet sich gelangweilt seinem Handy zu. Die gute Laune des Brautpaares muss durch den Tanzlehrer und durch Drogen wiederhergestellt werden.

Auch das ganze System, das die von der Außenwelt gut geschützte Villa darstellt, zeigt dekadente Züge. Glückliche Momente sind hier die Ausnahme, der Hausmeister und die Putzfrau schaffen sich welche beim Kaffee- und Schnapstrinken in ihren kleinen privaten Nischen, die Hochzeitsplanerin beim Tête-à-Tête mit einem Kellner im Keller. Der Platz und der Stellenwert von jedem einzelnen im Haus sind festgelegt. Was perfekt läuft, ist das Delegieren und Vermeiden der Arbeit. Die schwarzen Müllsäcke, über die man ständig stolpert, stehen symbolisch dafür. Spaß entsteht, wenn es gelingt, die Hie­rarchie auszutricksen und darüber gemeinsam abzulästern.

Impulse von außen

Abwechslung kommt von außen. An diesem Tag herrscht daran kein Mangel, weil für das Event vieles angeliefert werden muss: das Hochzeitskleid, Lebensmittel, Geschenke und Blumen. Ausgefallene Nebenrollen entstehen dabei, willkommene Charaktere für brillante schauspielerische Leistungen. Der Bote liefert nicht nur einen kleinen Blumenstrauß, sondern auch die Botschaft, dass von der Außenwelt auch Impulse kommen, welche die Routine ins Wanken und die Sehnsucht nach menschlichen Gefühlen zum Überlaufen bringen können: Zwei Augenpaare bleiben etwas länger als gewohnt aneinander hängen, verdrängte Emotionen und mit ihnen das Leben des Managers geraten deshalb aus den Fugen. Was zurückbleibt, ist nicht nur ein aus Verlegenheit liegen gelassener Stift.

Die Fremde

Der Schlendrian des Hausmeisters – er vergisst, mit der Fernbedienung das Tor zu schließen – ermöglicht es, dass eine vom Leben gezeichnete, hochschwangere Frau, eine Fremde, auf den Hof gelangt. Die Braut entdeckt sie als erste, sie nähert sich ihr mit neugierigen Blicken, wird aber gestört. Die Putzfrau versucht die Fremde zunächst, wie ein Tier, mit dem Besen zu verscheuchen, der Hausmeister will sie vom Hof weisen. Dann gelangt aber bei diesen Menschen „der Kern, der unveränderlich und unzerstörbar ist“, wie Theaterdirektorin Silvia Armbruster und Geschäftsführer Thomas Siedersberger das Celan-Zitat interpretieren, an die Oberfläche, die Schutzsuchende wird von den beiden aufgenommen und sogar beschenkt. Dass mit ihr eine neue Lebenseinstellung in den Hof Einzug hält, wird an der Veränderung der Pflanzen gezeigt. Eigentlich ist die Frau auf der Suche nach Trinkwasser. Als sie ihre Plastikflasche auffüllt, trinkt sie es jedoch nicht selbst, sondern begießt die vernachlässigten Blumen, die kurz darauf – ähnlich wie die Gefühle der Akteure – zu blühen beginnen und später das Kabüffchen des Hausmeisters in einen grünen Garten verwandeln.

Die Schwangere renkt die Gelenke des Managers ein und schenkt ihm wieder Bewegungsfreiheit. Dieser tanzt vor Freude, hat jedoch kein Auge dafür, dass sie in ihrem Zustand allein schwere Kisten schleppt. Die anderen im Haus nehmen keine Notiz von ihr. Schließlich entbindet sie auf sich allein gelassen ein gesundes Baby auf dem Hinterhof, während die Braut im Vordergrund vom Tanz des Lebens ergriffen wird. Erschöpft vom Leben und von der Geburt, stirbt die Mutter. Das Schlussbild deutet an, dass auf das Kind ein besseres Leben wartet, trotzdem ist es verkürzt, wenn das Tik-Programmheft dieses Stück als „Komödie“ bezeichnet.

Keine Stimme, keine Mimik

Familie Flöz verzichtet auf zwei Elemente, die im Theater normalerweise eine zentrale Rolle spielen: auf die menschliche Stimme und auf die Mimik. Um so größer ist die Wirkung der Körpersprache, der Musik (Cello und Klavier) und der für dieses Ensemble so typischen Masken. Dass diese von Hajo Schüler, dem künstlerischen Leiter der Company entworfenen vollständigen Gesichter unbeweglich sind, realisiert der Zuschauer erst, wenn er bewusst darüber nachdenkt. So kraftvoll ist die von der Bühne ausgestrahlte Imagination.

Ist das Stück eine beeindruckende Milieustudie? Wird das Thema Gated Communities und die damit verbundene soziale Ausgrenzung angesprochen? Handelt es sich um eine Geschichte, die sich mit der „Festung Europa“ kritisch auseinandersetzt? Oder schildert sie die unendliche Suche der Menschen nach ihrem persönlichen Glück? Dieses Theater lässt viele Interpretationsmöglichkeiten zu. Jeder im Publikum fand schnell einen eigenen, emotional geprägten Zugang, was sich in dem langen anhaltenden Applaus widerspiegelte. Als eine Art Zugabe wiederholten die drei Schauspieler Andrés Angulo, Johannes Stubenvoll und Thomas van Ouwerkerk auf einer Glasharfe das musikalische Leitmotiv. Erst jetzt realisierten die meisten, dass all die unterschiedlichen Charaktere nur von drei jungen Talenten dargestellt wurden. Eine unglaublich beeindruckende künstlerische Leistung!

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