Russen-Durchbruch in der Ostukraine: Putin zielt auf Großstadt ab – sie sichert den Nachschub
Die russische Armee von Wladimir Putin stößt im Donbass weiter vor. Jetzt gerät eine Stadt in Gefahr, die für die Ukrainer regelrecht überlebenswichtig ist.
Kramatorsk - Die Stadt ist ein Sinnbild für die grenzenlose Brutalität durch Russland im Ukraine-Krieg. Und ein Beispiel dafür, wie rücksichtslos und unmenschlich Moskau-Machthaber Wladimir Putin in seinem Imperialismus vorgeht.
Ukraine-Krieg: Wladimir Putin lässt seine Armee wohl auf Kramatorsk vorrücken
Am Vormittag des 8. April 2022 hatten die russischen Streitkräfte den zivil genutzten Bahnhof von Kramatorsk mit mehreren gewaltigen 9K79-1 Totschka-U-Raketen attackiert. Untersuchungen der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) zufolge, hatten einzelne dieser Raketen Gefechtsköpfe mit Streumunition. Es war ein Massaker. Ein Blutbad. Ein mutmaßliches Kriegsverbrechen. Laut Pawlo Kyrylenko, des ukrainischen Gouverneurs der Region Donezk, wurden bei dem heimtückischen Luftangriff 57 Menschen getötet und 109 teils schwer verletzt.
Kramatorsk hat nicht nur deshalb eine hohe symbolische Bedeutung für den Widerstand der Ukraine. In der Großstadt mit ihren vormals mehr als 150.000 Einwohnerinnen und Einwohnern liegt schon seit Jahren das Hauptquartier der ukrainischen Donbass-Truppen. Aktuelle Frontvorstöße der Russen im Osten des geschundenen Landes deuten daraufhin, dass die strategisch immens wichtige Stadt eines der nächsten großen Kriegsziele Putins sein dürfte.

Ukraine-Krieg: Truppen von Wladimir Putin durchbrechen im Donbass die Front
Ein Vergleich: Während ukrainische Marine-Soldaten in der Südukraine den Dnipro-Brückenkopf bei Cherson erweitern konnten, trug sich unweit von Awdijiwka im Donbass aus der Perspektive von Kiew geradezu Verheerendes zu. So wurde das Front-Städtchen Otscheretyne (vormals 3600 Einwohner) rund zehn Kilometer nordwestlich der völlig zerstörten Industriestadt Awdijiwka von der russischen Armee binnen 48 Stunden regelrecht überrannt. Etlichen Berichten zufolge sollen die dort stationierten ukrainischen Soldaten geflüchtet sein.
Und genau dieser Umstand sorgt in den Sozialen Netzwerken für gewaltigen Zündstoff unter Militär-Bloggern. Denn: Eingeteilt war demnach die neu aufgestellte 115. Brigade, die sich aus neuen Rekruten zusammensetzen soll. Folglich kämpften dort keine erfahrenen Soldaten, die sich früher gegebenenfalls sogar freiwillig gemeldet hatten. Sondern solche, die erst spät rekrutiert wurden. Diese Brisanz dahinter entlud sich umgehend und heftig in den Sozialen Medien.
Der drastische Vormarsch der Russen wurde dadurch möglich, dass bestimmte Einheiten einfach aus ihren Stellungen abgehauen sind.
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Donbass-Front im Osten: Ukraine-Soldaten flüchten angeblich vor den Russen
„Leider hat eine der neu angekommenen Brigaden, die 115. mechanisierte Brigade, ihre Stellungen unerlaubt verlassen, was zu einem Durchbruch der Russen führte“, schrieb der ukrainische Blogger „GloOouD“ bei X (früher Twitter). Und Mykola Melnyk, Kommandeur der kampferprobten 47. mechanisierten Brigade „Magura“, polterte laut Bild: „Der drastische Vormarsch der Russen wurde dadurch möglich, dass bestimmte Einheiten einfach aus ihren Stellungen abgehauen sind.“ Weil sie angesichts der gerade erst wieder anlaufenden US-Waffen-Lieferungen für die Ukraine zu wenige oder keine gepanzerten Fahrzeuge hatten? Spekulation.
Alarmierend: Eigentlich wollten die ukrainischen Streitkräfte nach dem Fall Awdijiwkas Mitte Februar zwischen den Dörfern Berdytschi und Tonenke eine zweite Verteidigungslinie aufrechterhalten. Doch zuerst fiel innerhalb kurzer Zeit genau auf dieser Linie die Siedlung Orliwka an die Russen. Und jetzt umgingen Putins Truppen eben jene vermeintliche Abwehrreihe weiter nördlich bei Otscheretyne. Bedenklich: Bereits nach dem Verlust Awdijiwkas hatte es Berichte über schwere ukrainische Versäumnisse an diesem Frontabschnitt gegeben, während der neue ukrainische Oberbefehlshaber Olexander Syrskyj auf dem Boden bis auf Cherson keinerlei militärische Erfolge vorzuweisen hat.
Ukraine-Versäumnisse im Donbass? Militär-Analyst kritisiert Kiew deutlich
Heftige Kritik kam unlängst etwa von Jurij Butusow vom ukrainischen Infodienst Censor.net. Der Analyst tadelte die Militärführung und Präsident Wolodimir Selenskij entschieden. So hat es die ukrainische Armee offenbar versäumt, in den vergangenen Jahren und Monaten eine zweite Befestigungslinie aus Schützengräben, Bunkern und Unterständen westlich der langjährigen Frontstadt Awdijiwka zu bauen. Die Militärverwaltung und zuständige Baueinheiten seien untätig geblieben, bemängelte Butusow laut Süddeutscher Zeitung (SZ): „Die meisten Verteidigungspositionen werden von Soldaten mit einem Spaten aus der Erde gegraben.“
Ist Kramatorsk Putins nächstes Ziel? Russland-Armee attackiert auch Tschassiw Jar
Rund 40 Kilometer nordöstlich von Otscheretyne erhöht Russland derweil heftig den Druck auf Tschassiw Jar - ebenfalls mit Stoßrichtung Kramatorsk. Videos bei X dokumentieren, dass im Stadtgebiet, indem sich ukrainische Verteidiger verbarrikadiert haben, wohl tonnenschwere Fliegerbomben und schwerkalibrige Artilleriegeschosse einschlagen. Wie die US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW) in ihrer täglichen Analyse vom Mittwoch (24. April) schrieb, hob der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu die laufenden russischen Offensiv-Operationen in der Nähe von Tschassiw Jar, Awdijiwka und der Stadt Donezk hervor. Und er kündigte demnach die Absicht Russlands an, seine Angriffskampagnen dort weiter zu intensivieren.
Laut ISW wollen die Russen ihre Angriffe „wahrscheinlich in diesen Gebieten und nicht anderswo entlang der Front verstärken“. Um in einem zweiten Schritt Kramatorsk aus südlicher Richtung kommend anzugreifen? Jene Stadt, die seit Beginn des Aufstands prorussischer Separatisten im Sommer 2014 das Hauptquartier der ukrainischen Armee im Osten des Landes beherbergt. Und deren beschriebener Bahnhof samt Eisenbahnlinie sowie die durchführende Fernstraße N20 als wichtige Nachschubrouten gelten. (pm)