Verschulden für den Klimaschutz - Top-Experten zeigen 14 Klima-Baustellen, in die unsere 100 Milliarden fließen müssen
Klimaschutz ist teuer? Ja, der Umbau ganzer Länder, Industrien und Energiesysteme kostet viel Geld. Doch Nichtstun wäre mindestens sechsmal so teuer. Gleichzeitig kann auch schlecht gemachter Klimaschutz immense Summen verschlingen, wenn das Geld in die falschen Maßnahmen fließt und verpufft.
Diesen Fehler darf die künftige schwarz-rote Koalition nicht machen. Denn noch vor Regierungsantritt hat Friedrich Merz mit SPD und Grünen ein Klima-Sondervermögen in Rekordhöhe beschlossen. 100 Milliarden für den Klimaschutz sind im Sondervermögen Infrastruktur enthalten. Eine finanzielle Blaupause für den Klimaschutz - aber nur, wenn sie klug eingesetzt wird. Verschwendung kann sich niemand leisten.
Deutschland muss zum Klima-Vorbild werden
Bevor also die 100 Milliarden für den Klimaschutz eifrig verteilt werden, sollte man sich erst einmal darauf besinnen, warum Deutschland die Klimawende vorantreibt, fordert der Klimaökonom Lion Hirth. „Nicht nur, um Emissionen zu reduzieren, denn dafür sind wir als CO2-Emittent viel zu klein“, sagt der Experte gegenüber FOCUS online Earth. „Sondern um der Welt und den großen Emittenten zu zeigen, wie Klimaschutz politisch und technisch kostengünstig möglich ist.“
Denn: Ein sinnvolles Vorbild kann Deutschland nur sein, wenn es gelingt, die Emissionen substanziell zu reduzieren, ohne dafür unverhältnismäßig viel Geld auszugeben. „Eine Strategie, die nur durch massiven finanziellen Einsatz 99 Prozent der Emissionen reduziert, ist sinnlos, weil andere Länder nicht mitziehen. Kosteneffizienz muss im Mittelpunkt stehen.“ Die Verantwortung dafür trägt wohl bald Schwarz-Rot.

Experten erklären, wohin die 100 Klima-Milliarden jetzt fließen müssen
Die Frage ist also nicht, ob die 100 Milliarden für den Klimaschutz ausgegeben werden, sondern wie. FOCUS online Earth hat führende Expertinnen und Experten der Energie- und Klimawende gefragt, wie die 100 Milliarden in den nächsten Jahren investiert werden sollten, um die größtmögliche Wirkung zu erzielen.
Denn: Damit die historisch hohe Summe für das Klima wirkt, muss sie sozial gerecht, effizient und langfristig wirtschaftlich tragfähig sein. Die zentralen Forderungen der Experten im Überblick:
Der Verkehrssektor
Viele Expertinnen und Experten betonen, dass vor allem im deutschen Verkehrssektor viel CO2 eingespart werden kann. „Hier lassen sich große Klimahebel mobilisieren“, sagt die Klimaökonomin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) gegenüber FOCUS online Earth. Auch Klimaexperte Tom Bauermann vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung, WWF-Chefin Viviane Raddatz sowie Energieprofessor Christian Rehtanz von der TU Dortmund skizzieren zahlreiche Investitionen im Verkehrssektor.
- Massive Investitionen in die Schieneninfrastruktur und den öffentlichen Nahverkehr
- Sozial gerechte Leasingprogramme für E-Autos, wie sie zum Beispiel in Frankreich zur Verkehrswende beitragen.
- Befristete Förderung der Ladeinfrastruktur, um den Kauf privater E-Autos zu fördern
- Vergünstigte Tickets für den öffentlichen Nahverkehr.
Die Expertinnen und Experten betonen jedoch, dass die Mittel nicht mit der Gießkanne, sondern bedarfsgerecht und zielgerichtet investiert werden sollten, um die Verkehrswende sozial gerecht zu gestalten.
Der Gebäudesektor
Auch der Gebäudesektor gehört zu den Sorgenkindern der Klimawende in Deutschland. Die Expertinnen und Experten sind sich einig, dass der Staat hier unterstützen muss, um die Energieeffizienz zu steigern und den CO2-Ausstoß zu minimieren. Ausstoß zu minimieren:
- Finanzielle Förderung von energetischen Sanierungen nach dem "worst-first-Prinzip" schlägt etwa Tom Bauermann vor. Die öffentlichen Investitionen würden als Hebel für private Investitionen in die Gebäudesanierung wirken, erklärt Professor Rehtanz. Zudem würde das regionale Handwerk gestärkt.
- WWF-Chefin Raddatz und Klimaexperte Bauermann befürworten außerdem Investitionen in den Ausbau und die Modernisierung der Fernwärmenetze.
- Außerdem seien Investitionen in die Elektrifizierung durch den verstärkten Einsatz von Wärmepumpen notwendig.
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Das Energiesystem
Der wohl wirksamste Klimahebel sind Investitionen in das Energiesystem, denn saubere Energie ist die Grundlage für die Dekarbonisierung des Verkehrs, der Industrie oder des Gebäudesektors. Deutschland hat in den vergangenen Jahren der Ampel-Regierung bei der Energiewende bereits deutlich an Fahrt aufgenommen. Dennoch gibt es noch Baustellen für ein leistungsfähiges Strom- und Wasserstoffnetz. Was die Expertinnen und Experten für sinnvoll halten:
- Energieexperte Lion Hirth spricht sich für kosteneffiziente Lösungen wie günstige Windkraft an Land und große Solarparks statt teurer Einzelanlagen aus. Auch Kerstin Andreae, Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), fordert gegenüber FOCUS online Earth mehr Unterstützung für den Ausbau erneuerbarer Energien.
- Auch der Ausbau der Stromnetze müsse Vorrang haben, um die erneuerbaren Energien effizienter im System nutzen zu können. Dazu brauche es Digitalisierung und kapazitätsorientierte Marktmechanismen, um Lasten und Flexibilitäten besser steuern zu können.
- Für den Hochlauf von Wasserstoff seien zudem Investitionen in die Erzeugungs-, Transport-, Import- und Speicherinfrastruktur notwendig. Damit lassen sich energieintensive Industrien wie Chemie oder Stahl dekarbonisieren, sagen Andreae und Bauermann.
- Auch Energieexperte Maurer und der BDEW sprechen sich für Investitionen in steuerbare Kraftwerkskapazitäten aus. Diese seien notwendig, um die Versorgungssicherheit in einem zunehmend erneuerbaren Energiesystem zu gewährleisten.
- Darüber hinaus seien Investitionen in den Transport, Export und die Speicherung von CO2 erforderlich, die auch für die Dekarbonisierung der Industrie notwendig seien.
Auch wenn für die Energiewende in Deutschland Milliardenbeträge benötigt werden, plädieren viele Experten dafür, zunächst die politischen Rahmenbedingungen zu optimieren, um die Energiewende marktwirtschaftlich voranzutreiben.
„Statt staatliche Milliarden in den Neubau von Gaskraftwerken zu stecken, müssen zunächst die Marktregeln für einen Kapazitätsmarkt entwickelt werden“, sagt Energie-Experte Rehtanz. „Denn nur wenn die Marktbedingungen für viele Jahre verlässlich definiert sind, können Investitionen von der Industrie sinnvoll getätigt werden. Der Staat muss sich um die Regeln für die Märkte und die Infrastruktur kümmern, den Rest regelt die Marktwirtschaft.“ Damit, so BDEW-Präsident Andreae, könne Klimaneutralität erreicht und die Wettbewerbsfähigkeit als Grundlage für wirtschaftliches Wachstum gestärkt werden.
Die Industrie, die Forschung und Wirtschaft
Damit die Klimawende in Deutschland gelingt, müssen Investitionen gezielt in Infrastruktur, klimafreundliche Technologien und marktwirtschaftliche Anreizsysteme gelenkt werden. Zentrale Forderungen sind:
- Investitionen in Forschung und Entwicklung, insbesondere in Schlüsseltechnologien wie erneuerbare Energien, Batterien und klimafreundliche Produktionsverfahren, befürworten die Experten Maurer und Bauermann.
- Modernisierung der Industrie durch Elektrifizierung und Umstellung auf klimaneutrale Prozesse, um Effizienzgewinne zu erzielen.
Von diesen Investitionen würde nicht nur die Klima-Transformation profitieren, sondern auch die Innovationskraft und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.
Klar ist: Mit Geld allein ist die Klimawende nicht zu schaffen. Neben klugen Investitionen fordern die Expertinnen und Experten verlässliche politische Rahmenbedingungen, effiziente Marktmechanismen und gezielte Anreize für die Industrie. Denn nur wenn der Staat die richtigen Leitplanken setzt, kann die Marktwirtschaft ihre volle Innovationskraft entfalten.
Ob Deutschland mit den 100 Milliarden zum Vorbild für erfolgreichen Klimaschutz wird, hängt also nicht nur davon ab, wo investiert wird - sondern auch davon, wie klug und effizient die Mittel eingesetzt werden.