Top-Flug-Experte legt neue Theorie zum Absturz von Air India 171 vor

Der Absturz von Air-India-Flug 171 ist auch zwei Monate danach ein Rätsel. Noch immer verfolgen die Ermittler die These, einer der Piloten könnte absichtlich den Absturz herbeigeführt haben, indem er die Treibstoffzufuhr manuell abschaltete.

Der britische Luftfahrtexperte Richard Godfrey legt nun seinen unabhängigen Bericht vor und kommt zu dem Schluss: Der Absturz könnte die Folge von menschlichem und technischem Versagen gewesen sein. Auf 17 Seiten geht Godfrey, der auch an der Untersuchung des Verschwindens von Flug MH370 im Jahr 2014 beteiligt war, den Flugverlauf durch und leitet daraus, wie er sagt, "eine plausible Hypothese" her.

Wasser lief in die Elektronik - danach beging Pilot womöglich verhängnisvollen Fehler

Godfreys Fazit: Der Absturz wurde durch Wasserlecks in der Elektronik verursacht. Diese führten zu elektrischen Störungen. Daraufhin schalteten vermutlich die Piloten die Triebwerke ab, indem sie manuell die Treibstoffzufuhr kappten. Dies könnte auf Stress oder eine Fehlinterpretation der Situation zurückzuführen sein.

Godfreys Herleitung:

Der Unfall: Die Boeing 787-8 der Air India stürzte 30,7 Sekunden nach dem Start in Ahmedabad ab. 1620 Meter nach dem Ende der Startbahn krachte das Flugzeug in ein Gebäude, in dem Medizinstudenten gerade zu Mittag aßen. 241 der 242 Menschen an Bord starben, genauso wie 19 Personen am Boden.

Technisches Problem 1: Godfrey fiel die ungewöhnlich langsame Beschleunigung des Flugzeugs auf. Womöglich wurden diese durch Bremswiderstand oder Reifenprobleme verursacht.

Technisches Problem 2: Kurz nach dem Start schaltet sich ein Notsystem ein - die sogenannte Ram-Air-Turbine. Diese Turbine wird normalerweise nur ausgeklappt, wenn beide Triebwerke nicht mehr funktionieren. Sie soll ermöglichen, dass der Pilot das Flugzeug auch ohne Turbinenantrieb landen kann. Grund hierfür könnte laut Luftfahrtingenieur Godfrey sein, dass Wasser in die Elektronik eingedrungen ist.

Menschliches Problem: Bewiesen ist, dass nur kurze Zeit später beide Schalter für die Treibstoffzufuhr auf "Aus" gestellt werden. Godfrey vermutet, dass die Piloten damit auf etwas reagieren, was sie sehen: eine Warnung oder Anzeichen für ein Feuer. Allerdings gebe es dafür bislang keine Anhaltspunkte auf den Aufnahmen der Stimm-Rekorder. Godfrey schreibt: "Beide Triebwerke auszuschalten ist eine extreme Maßnahme, die nicht automatisch veranlasst wird."

Godfrey weiter: "Die beidseitige Abschaltung ging zeitlich mit dem elektrischen Notfall - der Einschaltung der Ram-Air-Turbine - einher. Bei der geringen Flughöhe und nur kurzer Zeit bis zu einem möglichen Absturz, hat es sich für die Piloten womöglich zu gefährlich angefühlt, abzuwarten." Womöglich hätten die Piloten deshalb schnell gehandelt. Dabei wäre die Abschaltung der Treibstoffzufuhr womöglich auf eine Fehlinterpretation der Lage oder eben auf Zeit-Stress zurückzuführen.

Flugsicherheitsexperte nennt seine Theorie "möglich, aber nicht bewiesen"

Godfreys Hypothese ist, dass die beiden Triebwerke eigentlich funktionierten, bis sie abgeschaltet wurden – dass aber ein technischer Defekt die Piloten dazu verleitete und deshalb technisches und menschliches Versagen für den Absturz verantwortlich sind.

Godfrey selbst führt an, dass es für die Wasser-Theorie bisher keinen ausreichenden Beweis gebe. Auch welches elektronische Equipment vom möglicherweise eindringenden Wasser beschädigt worden sei, sei unklar. Er bezeichnet seine Hypothese als "möglich, aber nicht bewiesen". Es bräuchte mehr Daten und Erkenntnisse, um sie endgültig zu belegen.

Das Flugzeug ist in der Nähe der indischen Stadt Ahmedabad abgestürzt. Genauer gesagt, kurz nach dem Start vom Sardar Vallabhbhai Patel International Airport in Ahmedabad in ein Wohngebiet. Es handelt sich um eine Boeing 787 Dreamliner der indischen Fluggesellschaft Air India, die auf dem Weg nach London war.
Das Flugzeug ist in der Nähe der indischen Stadt Ahmedabad abgestürzt. Picture Alliance

Ermittler untersuchen Anzeichen eines "eingeschränkten elektrischen Feuers"

Godfreys Theorie geht mit einer Erkenntnis einher, die die Ermittler von Flug Air India 171 schon länger untersuchen. Laut mit der Untersuchung vertrauten Beamten fiel den Ermittlern auf, dass das Leitwerk am Heck des Wracks Anzeichen eines "eingeschränkten elektrischen Feuers" gezeigt habe. Das Feuer sei auf wenige Komponenten im Heck des Flugzeugs beschränkt gewesen, heißt es.

Große Teile des Hecks hatten sich bei dem Absturz gelöst und waren durch die Explosion des Treibstoffs weitgehend verschont geblieben. Die entscheidende Frage dabei sei, ob das Feuer zum Absturz geführt habe oder erst durch den Absturz entstand. 

Die Flugzeugteile, die in Ahmedabad gelagert werden, seien "der Schlüssel für eine detaillierte Analyse einer möglichen Fehlfunktion in der Stromversorgung des Flugzeugs während des Abhebens", so einer der Beamten zu "Indian Express". Denn wie die Zeitung berichtet, habe die Crew des vorherigen Fluges nach Ahmedabad einen Fehler eines Sensors im Heck der Maschine gemeldet. Der sei jedoch von einem Mechaniker vor dem Start der Maschine behoben worden.

Air India
Eine Boeing 787-8 Dreamliner der Air India mit 232 Passagieren und 10 Besatzungsmitgliedern und Piloten an Bord stürzt kurz nach dem Start vom Flughafen Ahmedabad ab Getty

Co-Pilot fragte Piloten mehrfach, warum er die Treibstoffzufuhr abschaltete

Noch immer steht auch die Theorie im Raum, einer der Piloten könnte den Absturz absichtlich herbeigeführt haben. Im vorläufigen offiziellen Bericht zum Absturz steht, die beiden Hebel für die Treibstoffzufuhr wären binnen einer Sekunde umgelegt worden. Etwas, das eigentlich nur manuell geschehen sein kann.

Der Co-Pilot fragte laut Auswertung des Voice-Rekorders den Piloten mehrfach, warum er das getan habe. "Habe ich nicht", war die Antwort.

Anwalt plant große Klage im Falle eines technischen Defekts

Godfrey legt in seinem Bericht dar, dass der Unfall "vermeidbar" gewesen sei und auf "Wartungsmängel" zurückzuführen sei. Die Pilotenfehler seien demnach nicht die Hauptursache gewesen.

Ein Umstand, der die Airline teuer zu stehen kommen könnte. Denn schon jetzt droht der Anwalt Mike Andrews, der viele Hinterbliebene vertritt, mit einer Klage, sollte ein technischer Defekt Ursache für den tödlichen Absturz gewesen sein.  Womöglich streben er und seine 80 Klienten sogar eine Klage in den USA an.

Andrews will Air India und die indische Luftfahrtbehörde (AAIB) unter Druck setzen, in dem er selbst eine Rekonstruktion des Absturzes vornimmt. Dafür fordert er die Herausgabe des Flugschreibers und des Stimm-Rekorders.