„Hat mir Angst gemacht“: Frau (18) ihr Leben lang als „Zigeunerin“ ausgegrenzt - sie will aufklären
Sie ist eine ziemlich normale 18-Jährige. Trotzdem wurde sie ihr Leben lang anders behandelt. Das hat Narben hinterlassen. Sie wehrt sich – und möchte aufklären.
Wolfratshausen – Sie war elf Jahre alt, als sie ihre Mutter fragte, warum die anderen Kinder sie immer „Zigeunerin“ nannten. Und ihr Leben wurde ein anderes, als ihre Mutter antwortete: „Weil Du eine bist.“ Gina ist eine Jenische. Auch Sinti gehören zu ihrer Familie. Dafür wurde die 18-Jährige ihr Leben lang ausgegrenzt, gemobbt, „Zigeunerin“ genannt. Heute will Gina für mehr Verständnis zwischen den Kulturen werben. Sie vermittelt zwischen Geflüchteten und Asylhelfern. Und sie macht aufmerksam auf ihre eigene Leidenszeit, um andere davor zu schützen.
Gina heißt eigentlich anders. In diesem Artikel wird sie aber so genannt, weil sie das letzte Mal, als sie öffentlich mit ihrem richtigen Namen über ihre Kultur gesprochen hat, Ausgrenzung erfuhr. Auch ihre Mutter – wir sollen sie Marianne nennen – hat zu viele schlechte Erfahrungen gemacht. Sobald sie spricht, hört man unschwer, dass sie ein bayerisches Original ist. Ihr ganzes Leben hat sie im Landkreis verbracht. Und eigentlich lebt sie auch gerne hier. Immer wieder gab es aber unschöne Szenen. „Als Nachbarn mitbekommen haben, was wir sind, war’s vorbei mit dem Ratschen am Nachmittag im Hof.“ Zuvor hatte sie immer wieder Kontakt mit den anderen Müttern im Umfeld.

Es war nicht das erste Mal, dass die 58-Jährige ausgegrenzt wurde, als ihre jenischen Wurzeln bekannt wurden. „Als Kind ist es mir nicht so sehr aufgefallen – aber wir waren nur unter uns. Kein anderer wollte mit uns etwas zu tun haben in der Schule.“ Einsam fühlte sich Marianne in der Jugend aber nie. „Wir haben alle in einer Straße gewohnt, waren wie eine Familie“, sagt sie über die jenische Gemeinschaft. Manchmal verspürt Ginas Mutter Heimweh – nicht nach dem Ort, sondern nach der Stimmung, die sie dort in ihrer Jugend erlebte. Nicht alle Wolfratshauser verbanden so familiäre Gefühle mit der Siedlung. „Von den anderen Wolfratshausern wollte niemand dorthin. Wir waren verrufen.“ Warum, das weiß sie bis heute nicht. „Getan haben wir niemandem etwas.“
Sinti und Roma in Deutschland: Sie gehören längst dazu - und werden trotzdem von vielen gehasst
Seit Jahrhunderten leben Sinti, Roma und Jenische in Deutschland. Längst sind sie kein fahrendes Volk mehr, sondern sind sesshaft geworden, leben in normalen Wohnungen ihre normalen Leben. „Trotzdem gibt es keine Minderheit, die mehr gehasst wird“, sagt Gina. Einige renommierte Historiker sehen das so. Eine Meldestelle für Übergriffe in Zusammenhang mit Antiziganismus – also Diskriminierung von Sinti, Roma und Jenischen – hat im Jahr 2022 621 Fälle registriert.
Einer davon betraf Gina – und ist nur der Gipfel der Verachtung, der ihr in der Schulzeit entgegenschlug. Oft wurde sie als „Zigeunerin“ beleidigt. Mitschüler machten Witze über den Holocaust und darüber, dass die junge Frau vergast gehöre wie ihre Familie. „Sie haben Lieder gesungen von Kindern, die ins Gas gehen.“ Und eines morgens, als Gina in die Schule kam, hatte jemand mit einem Edding-Stift ein großes Hakenkreuz auf ihren Platz gemalt. Die Widmung dazu: „Hau ab, Zigeuner.“ Die Erinnerung daran schmerzt sie auch Jahre später noch. Man merkt das, wenn sie davon erzählt, wie ihr Lehrer versucht haben soll, den Tisch nach Unterrichtsschluss verschwinden zu lassen. Ihre Mutter war früh genug vor Ort und fotografierte die Schmiererei. Sie meldeten den Fall dem Landesverband der Sinti und Roma in Bayern.
Sie wollte ihre Tochter schützen: Lange erzählte Ginas Mutter ihr nichts von ihren Wurzeln
Vor dieser Diskriminierung wollte Marianne ihre Tochter eigentlich schützen. Deswegen sagte sie dem Mädchen lange nichts über ihre Wurzeln. Für die damals Elfjährige war es ein Schock. „Es hat ihr Angst gemacht“, erinnert sich Marianne. Dass man sie als etwas anderes wahrnimmt, obwohl sie gar nichts anders machte als ihre Mitschüler, das konnte das junge Mädchen lange nicht fassen. „Ich habe mich gefragt, was das für mich ändert. Und es hat richtig lange gedauert, bis ich es verstanden habe.“
Meine news
Im Moment merkt die junge Frau, dass in der Region wieder Vorbehalte aufkeimen. Seit bekannt wurde, dass einige der Geflüchteten aus der Ukraine Sinti, Roma und Jenische sind, hört sie das „Z“-Wort wieder häufiger. Und als die AfD-Pläne zur Remigration von diversen Volksgruppen bekannt wurden, „da haben wir’s auch mit der Angst bekommen“, gesteht Marianne. Denn auch die Jenischen sollten demnach ihre Staatsbürgerschaft verlieren – obwohl sie seit Generationen Deutsche sind. „Man sieht es doch: Der Hass hat nie wirklich aufgehört.“
Flüchtlinge aus der Ukraine: Viele von ihnen sind Sinti, Roma oder Jenische
Regelmäßig besucht Gina eine Flüchtlingsunterkunft. Mit einigen Freiwilligen aus dem Asylhelferkreis unterstützt sie Angebote für die dort lebenden Kinder. Sie versucht, kulturelle Missverständnisse zwischen den Helfern und den jungen Sinti und Roma zu verhindern. „Mir ist wichtig, dass man unsere Kultur akzeptiert und respektiert.“ Ein Beispiel: Sinti mögen es nicht, wenn Fremde die Haare ihrer Kinder anfassen. „Die sind Teil unserer Identität“, versuchte Gina jüngst im Helferkreis zu erläutern. Sie findet: Sich auf solche Wünsche einzulassen, ist ein Entgegenkommen, das man jedem Menschen zumuten kann. „Die Sinti und Roma in der Halle verzichten selber auf so wahnsinnig viel, was sie eigentlich ausmacht.“ Für Menschen, die einen so ausgeprägten Freiheitssinn haben wie ihre Volksleute, sei die Unterbringung in einer vollen Turnhalle mit noch größeren Einschränkungen verbunden als ohnehin. „Sie können darin auch nicht Musik machen“ aus Rücksicht auf die anderen Flüchtlinge. „Wir lieben Instrumente und Musik“, sagt sie, „das gehört für uns zum Leben einfach dazu.“ Auch für Gina. Die 18-Jährige hofft darauf, einen musikalischen Beruf ergreifen zu können. Sie spielt Gitarre und singt. „Es wäre richtig cool, wenn das klappt.“ Sie war bereits für Aufnahmen in Tonstudios und hat Stimmproben an verschiedene Produktionsfirmen geschickt.
Gipsy-Musik und Wohnwagen: „Es gibt eine heftige Doppelmoral“
Die Gipsy-Musik ist ein Exportschlager aus der Kultur der Jenischen, Sinti und Roma, weiß Marianne. Auch das Urlauben im Wohnmobil habe ihren Ursprung in dieser Kultur. „Früher hat man uns dafür diskriminiert, heute wollen alle so eins haben.“ Sie selbst würde sich auch einen Wohnanhänger für den Urlaub wünschen. Obwohl einzelne Aspekte aus der Kultur der Volksgruppe allgemein beliebt sind: Anerkannt fühlt sich die Familie nicht. „Es gibt da eine ziemlich heftige Doppelmoral“, findet Marianne. „Es gibt so viel Hass, den ich nicht verstehen kann“, ergänzt Gina. Ihr Alltag würde sich von dem einer nicht-jenischen Deutschen ihres Alters nicht unterscheiden. „Ich führe ein völlig normales Leben.“ Ihre Mutter fügt an: „Ich putze wie die anderen, ich esse wie die anderen, ich koche wie die anderen“ – außergewöhnlich sei daran nichts. Trotzdem schlagen der Familie immer wieder Vorurteile entgegen. Gina haben die Diskriminierungen immer wieder heftig zugesetzt. „Ich habe aber immer noch die Hoffnung, dass ich etwas ändern kann, irgendwann.“ Vielleicht engagiert sie sich deshalb so für die Verständigung. Und sie tut es aus eigener Betroffenheit. „Ich möchte für die Kinder in der Halle da sein, weil ich nie das Gefühl hatte, dass sich jemand für mich einsetzt.“
Auch interessant
Kommentare
Liebe Leserinnen, liebe Leser,
wir erweitern den Kommentarbereich um viele neue Funktionen. Während des Umbaus ist der Kommentarbereich leider vorübergehend geschlossen. Aber keine Sorge: In Kürze geht es wieder los – mit mehr Komfort und spannenden Diskussionen. Sie können sich aber jetzt schon auf unserer Seite mit unserem Login-Service USER.ID kostenlos registrieren, um demnächst die neue Kommentarfunktion zu nutzen.
Bis dahin bitten wir um etwas Geduld.
Danke für Ihr Verständnis!