Wegen Trump kann Xi jetzt unerwartet schnell an den USA vorbeiziehen

Es war seit seinem Amtsantritt 2013 Xi Jinpings ehrgeiziges Ziel, an den Vereinigten Staaten von Amerika vorbeizuziehen und das Land als mächtigste Volkswirtschaft der Welt abzulösen. Etliche Analysten glaubten, dass aus den Ambitionen des chinesischen Präsidenten Wirklichkeit werden könnte. Sie prognostizierten den Moment der Staffelübergabe für die zweite Hälfte der 2020er Jahre. 

Doch dann kam Xis ideologische Kehrtwende: Alles, auch die eigene Wirtschaft, hatte sich den Forderungen der Kommunistischen Partei zu unterwerfen. Die Corona-Pandemie, die in der chinesischen Stadt Wuhan ihren Anfang nahm, führte zu repressiven Maßnahmen. So zweifelten letztlich auch die Chinesen an ihrer Zukunft. 

In Sachen KI hatte Washington die Nase vorn

Das wirtschaftliche Klima trübte sich ein. Es hat sich bis heute nicht völlig erholt. Das Datum, an dem Peking an Washington vorbeizuziehen würde, verlegten Analysten weiter und weiter in die Zukunft. Doch dann wählten die Amerikaner Donald Trump ein zweites Mal zum US-Präsidenten. 

Und Chinas Geschick begann sich zu Gunsten von Xis Ambitionen zu drehen. Trumps Zoll-Wahnsinn, sein volatiles Hin und Her, das Bullying anderer Länder, machte die Vereinigten Staaten über Nacht zu einem unsicheren Kantonisten. 

Die Vorteile, die die USA noch unter Joe Bidens Präsidentschaft gegenüber der Volksreplik hatten, sind deshalb in weniger als 100 Tagen Amtszeit verpufft. Ein Beispiel: Im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI), in dem die USA und China um die Vorreiterschaft ringen, hatte Washington bis dato die Nase vorn. 

Um den Erfolg zu messen, sind für Experten drei Punkte wichtig: wissenschaftliche Ergebnisse in Form von in Fachzeitschriften veröffentlichen Artikeln, die Höhe der Investitionssummen aus dem Ausland und die Zahl der Fachkräfte, die einem Land im Bereich "Künstliche Intelligenz" zur Verfügung stehen. Es besteht kein Zweifel daran, dass das auch die gezielte Einwanderung solcher Fachkräfte umfasst.

Amerika wird immer mehr zum Paria-Staat

Aus China kamen in der Biden-Zeit mehr Fachartikel, die international anerkannt und rezipiert werden, als aus den USA. In Sachen Investitionen und Fachkräfte hatte zwar Amerika die Nase vorn. Doch jetzt sind Investitionen in den Staaten nicht mehr sicher, Trump kann sie aus einer Laune heraus und mit einer Executive Order zunichte machen. 

Fachkräfte müssen fürchten, trotz gültiger Visa-Papiere festgenommen und von den Grenzschergen des US-Präsidenten in Ketten gelegt zu werden - weil sie auf Social Media etwas gesagt haben, das Trump missfällt. 

Diese Entwicklungen, die von Attacken auf den amerikanischen Rechtsstaat und der Einschüchterung von Universitäten, Medien und Zivilgesellschaft begleitet werden, machen Amerika immer mehr zu einem Paria-Staat.

Dass Trump den russischen Präsidenten Wladimir Putin hofiert und preist, den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und die europäische Partner Amerikas hingegen öffentlich schmäht, zeigt, dass er lieber ein autoritärer Herrscher als ein demokratischer Leader sein möchte.

Unternehmerische Freiheit sieht anders aus

Peking beobachtet das alles sehr genau und reagiert entsprechend. Heißt: China versucht seit Wochen, für die Volksrepublik als Ausweichstandort zu trommeln. Peking möchte mit weiteren asiatischen Ländern eine Front bilden, die vor Trumps Zoll-Wahnsinn schützen soll. 

Dieses Vorgehen wird nicht überall vorbehaltlos begrüßt, denn auch China ist alles andere als eine offene, liberale Marktwirtschaft. Den Zugang zum chinesischen Markt bezahlen ausländische Unternehmen mit Technologie- und Patenttransfer sowie einer Unterordnung unter die Maßgaben der Kommunistischen Partei. 

In jeder Firma, in der mehr als drei Mitglieder der KP arbeiten, muss eine Koordinierungs-, also eine Kontrollstelle der Partei, installiert werden. Unternehmerische Freiheit sieht anders aus. Aber im gegenwärtigen globalen Feld, in dem Amerika offenbar keine Demokratie mehr sein will, müssen Konzernlenker zwischen Pest und Cholera wählen. Das mag in manchen Fällen den Ausschlag für China geben.

Tourismus-Offensive Chinas ist ein gut kalkulierter Schritt

Aber mehr noch: Peking hat eine Charme-Initiative gestartet und lässt in diesem Jahr Touristen aus Europa visafrei in das Land einreisen. Diese Freizügigkeit, die für Bewohner des Schengenraums nichts Außergewöhnliches ist, stellt für China eine Art kontrollierten Kontrollverlust dar. 

Einen, den es so unter Xi so noch nicht gegeben hat. Man darf das als Einladung an bestimmte Teile der Welt verstehen, China in einem neuen Licht zu betrachten und, wer weiß, vielleicht in Betracht zu ziehen, dort zu forschen oder zu arbeiten.

Amerika hatte bislang eine solche "Soft Power”: Überall auf der Welt wollten Menschen leben wie in Amerika, amerikanische Filme schauen, amerikanische Kleider tragen, amerikanische Burger essen und Coca Cola trinken. Und die US-amerikanische Green Card, die Arbeitserlaubnis für die Vereinigten Staaten, galt vielen als höchstes Gut auf Erden. 

Um Talent aus aller Welt anzuziehen, braucht China jetzt auch Soft Power. Die Tourismus-Initiative ist ein erster, gut kalkulierter Schritt. Weil sich zeitgleich die schrecklichen Geschichten von der Inhaftierung europäischer Staatsbürger bei der Einreise in die USA mehren, wird China attraktiver.

Alles ist im Moment möglich - wenn Xi die Gunst der Stunde nutzt

Wenn Trump weiter die US-Wirtschaft schwächt, kann Xi seinem ursprünglichen Ziel, die USA zu überholen, tatsächlich näher kommen. Das wird aber nicht ohne Reformen in der Volksrepublik gehen. 

Viele bleiben deshalb skeptisch. Doch wenn Amerika, das Mutterland der modernen Demokratie, zu einem autoritären Staat werden kann, dann kann auch China sich in ein weltoffenes, tolerantes Land verwandeln. Alles ist im Moment möglich, wenn Xi Jinping die Gunst der Stunde richtig nutzt.

Über den Gastautor

Alexander Görlach unterrichtet Demokratietheorie und -praxis an der New York University. Zuvor hatte er verschiedene Positionen an der Harvard Universität und dem Carnegie Council for Ethics in International Affairs inne. Nach einer Zeit als Gastprofessor in Taiwan und Hongkong hat er sich auf den Aufstieg Chinas konzentriert und was dieser für die Demokratien in Ostasien im Besonderen bedeutet. Von 2009 bis 2015 war Alexander Görlach  der Herausgeber und Chefredakteur des von ihm gegründeten Debatten-Magazins The European. Er lebt in New York und Berlin.