Der Verein Fair-wohnen-Oberdorf will ein Mehrgenerationenhaus mit günstigen Mieten realisieren

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Das neue Vorstandsteam des Vereins Fair-wohnen-Oberdorf (v.l.): Simone Broeckx, Thomas Spross und Lisa und Kurt Zügner. © Foto: Lorenz-Munkler

Das Konzept stammt aus der Freiburger Hausbesetzer-Szene, und doch steht man ihm in vielen Stadt- und Gemeindeverwaltungen positiv gegenüber. Mittlerweile sind deutschlandweit 200 Wohnprojekte nach dem Modell des Mietshäuser-Syndikats entstanden. Und die Community wächst. Auch in Oberdorf hat sich eine Gruppe Festentschlossener zusammengetan. Ihr Ziel: Wohnen zum günstigen Preis in einem Haus, das sich im Gemeineigentum befindet und Raum für gegenseitige Unterstützung bietet.

Waltenhofen/Oberdorf – Alle Tische im alten Bahnhof in Oberdorf sind besetzt: Erwachsene sind gekommen, viele über 50, aber auch Jüngere und Kinder. Im Bullerjan lodern die Flammen, doch die Temperatur erwärmt sich erst langsam, sodass manche noch in ihre Jacken gehüllt sind. Heute soll ein Verein gegründet werden, der als Vorstufe dient für ein Hausprojekt.

Thomas und Gabriele Spross haben die Idee in den Ort gebracht. „Vor Jahren lebte die Familie von unserem jüngsten Sohn in einer WG des Mietshäuser-Syndikats in Freiburg. Die tolle Gemeinschaft hat uns sehr gut gefallen und es war die Urzelle der Bewegung“, erzählt der 74-Jähige.

Die Gebäude im Modell des Mietshäuser-Syndikats sind im Gemeineigentum. Man kann dort lebenslang zu einer günstigen Miete wohnen. Das ist gerade jetzt, wo der Wohnraum knapper und die Mieten immer teurer werden, ein Thema. „Wir wollen nicht auf Lösungen vom Staat warten, sondern selbst Lösungen für Probleme erarbeiten. Wir schimpfen nicht, sondern tun was und das hält uns jung“, erzählt der Initiator.

Auch nach Veranstaltungsbeginn tröpfeln immer wieder Gäste in den Bahnhof. Manche Neuankömmlinge hören im Stehen zu. Auch wenn es Nebengeräusche durch spielende Kinder gibt, sind alle konzentriert bei der Sache.

Schwarmfinanzierung und Bankkredite für Mehrgenerationenhaus

Der Plan ist, ein Mehrgenerationenhaus zu bauen – mit kleinen Wohnungen und großen Gemeinschaftsräumen für verschiedene Bedürfnisse. Vermietet wird an die Vereinsmitglieder zum festgeschriebenen niedrigen Preis. Der Clou: „Die nötige Summe wird nicht von den Mietern aufgebracht, sondern über eine Schwarmfinanzierung“, erklärt Spross. Das heißt, Leute, die Geld übrig haben, stellen es zur Verfügung. Diese sogenannten „Direktkredite“ werden nicht gleich zurückgezahlt wie herkömmliche Bankkredite.

„Wenn die Frau Müller 5.000 Euro gegeben hat als Direktkredit, dann kann man den benutzen wie Eigenkapital. Und wenn die Frau Müller Pech hatte und vom Zahnarzt einen Kostenvoranschlag über 3.000 Euro bekommen hat, dann kriegt sie ihr Geld wieder zurück“, und zwar innerhalb von sechs Wochen, so Spross. Die Gruppe finde dann wieder jemanden, der Geld geben kann. „Scheinbar gibt‘s die wirklich“, freut er sich. Man könne als Geldgeber zwischen Null einem oder zwei Prozent Zinsen wählen. Daneben planen die Oberdorfer mit Förderzuschüssen und einem Bankkredit. Die späteren Mieteinnahmen tilgen dann alles geliehene Geld.

Gemeineigentum

Und das Modell funktioniert, versichert Spross, der zuletzt in der Jugendhilfe gearbeitet hat. Nur ein einziges Mal sei ein solches Miet-Projekt insolvent gegangen. Was nicht am Geld gelegen habe, sondern am Zusammenhalt der Gruppe, der zusammengebrochen war. Die selbstverwaltete Organisationsform mit ihren flachen Hierarchien, die Aushandlungsprozesse müssen gelernt sein. Denn die Hausgemeinschaft trifft alle Entscheidungen im sogenannten Konsensprinzip, was Einigkeit in allen Punkten bedeutet.

Dass die Diskussionsrunden auch länger dauern können, das zeigt bereits die Sitzung zur Vereinsgründung, als es darum geht, einen Namen für das Projekt zu finden. Letztendlich fällt die Entscheidung auf „Fair-wohnen-Oberdorf“. Beim Thema Kommunikation will die Gruppe vom Erfahrungsschatz des Mietshäuser-Syndikats profitieren. Es fungiert als eine Art Dachorganisation und unterstützt die künftigen Wohngruppen nicht nur mit Geld, sondern auch mit Know How.

„Den Besitzbegriff müssen wir überdenken“

Aber auch an einer anderen Stelle ist das Mietshäuser-Syndikat involviert: Es gründet mit dem Hausverein und etwaigen Gönnern eine GmbH oder eine andere Rechtsform, die Besitzerin der Immobilie sein wird. Damit ist für das Syndikat ein Vetorecht verbrieft, falls die Mieter das Haus eines Tages verkaufen wollten. „Dieses Haus bleibt immer im Gemeineigentum“, erklärt Spross. Bei einer Genossenschaft könnte man an einen Investor verkaufen, was nicht passieren soll. Die Idee des Projekts ist, das Haus von Spekulationen fernzuhalten. „Wir wollen mit der Miete 20 Prozent unter dem Mietspiegel bleiben.“

Solidarität

Spross erzählt von einem Projekt in München, bei dem die Mieter in einer Bieterrunde so viel Miete anbieten, wie sie bezahlen können, um die Schulden fristgerecht zu tilgen. Die einen geben mehr, die anderen weniger. „Das macht mir Gänsehaut“, überschlägt er sich, „den Besitzbegriff müssen wir einmal überdenken.“ Bereits schuldenfreie Hausgruppen des Syndikats unterstützen mit ihren Mieteinnahmen die neuen Projekte als Starthilfe.

Man könne sogar überlegen, den Vereinsbeitrag über Mitgliederspenden zu organisieren, anstatt feste Summen einzusammeln. Diesen Mitgliedsbeitrag will die Gruppe für Spesen, Berater zu den Themen gewaltfreie Kommunikation, Gemeinwohl oder Organisationsentwicklung aufwenden. Eine Stiftung hat bereits ihre kostenlose Unterstützung in diesem Bereich zugesagt. „Ich hab‘ den Hüther angeschrieben“, sorgt Spross für Lacher. Gerald Hüther zählt zu den bekanntesten Hirnforschern Deutschlands, er ist Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung.

Modell des Mietshäuser Syndikats in Oberdorf: Mögliche Herausforderungen

Schwierigkeiten sieht ein am Projekt interessierter Zuhörer im Bahnhof in der Form der GmbH, die höher steuerlich belastet sei als eine Genossenschaft und deren Gesellschaftsvertreter wahrscheinlich die wechselnden Vereinsvorsitzenden seien. „Ich habe die Befürchtung, das will dann keiner machen“, merkte er an. Kurzerhand wurde der Experte mehr oder weniger ernst gemeint zum Berater in Sachen Vereinsrecht und juristischen Personen ernannt.

Sabine Bormann aus Waltenhofen-Rauns war von Anfang an bei der Gruppe der Interessierten dabei. „Ich finde den Ansatz toll, diese Profithengste auszuschließen“, erklärt sie. Ihr gefällt, dass mit dem Modell des Mietshäuser-Syndikats bezahlbare Mieten möglich werden. „Das ist auch im Allgäu total aus den Fugen geraten.“ Schon immer habe sie nach einem gemeinschaftlichen Wohnen gesucht: Einmal hatte eine Gruppe bereits ein Objekt, das ohne Investitionen von außen finanziert wurde. Es scheiterte daran, dass jeder die schönste Wohnung für sich beanspruchte. Man hatte ja schließlich bezahlt. „Man muss Konflikte aushalten, oder sogar mögen“, sagt sie, das sei für die Aushandlungsprozesse wichtig. Darüber hinaus das Nehmen- und Geben-können, woran es in der heutigen Gesellschaft mangle. Für wichtig erachtet Bormann, dass bei der Wohnungsvergabe eine gute Mischung aus Jung und Alt entsteht.

„Eine Schwarmgeschichte“

Die Wohn-Enthusiasten möchten das Gemeinschaftshaus mit viel Eigeninitiative neu errichten. Geplant sind mindestens zehn Wohneinheiten. Ein Bestandsgebäude zu finden, das groß genug ist, ist nicht leicht. Denn im Mehrgenerationenhaus sollen möglichst viele Menschen mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten wohnen und sich einbringen. „Könnte man das Projekt auf verschiedene Häuser verteilen?“, will eine Dame wissen. „Wenn der Hans für das gemeinsame Essen Zwiebeln schneiden soll, sind mehrere Häuser schwierig“, erklärt Spross.

Neben einer großen Küche für gemeinsam organisiertes Kochen sollen unter anderem ruhigere Bereiche, eine Werkstatt, Gästezimmer und ein Gartenhaus entstehen. Dazu kommen gemeinschaftliche Anschaffungen wie Carsharing oder Werkzeuge. Durch die Nähe in der Gruppe können sich die Einzelnen unterstützen. Jüngere können Älteren unter die Arme greifen, Ältere können bei den Hausaufgaben helfen oder beim Baby-Sitten.

Selbstverwaltung

Dieses Füreinander-da-sein fasziniert Ian Bühler aus Oberdorf. Er ist ohne konkretes Interesse zum Treffen gekommen. „Mir gefällt die Idee, dass man das Dorf wieder zurück hat, wo sich Leute mit unterschiedlichen Fähigkeiten unterstützen und Gegenstände geteilt werden“, sagt er. Gleichzeitig müsse das richtige Maß gefunden werden zwischen zu viel und zu wenig Gesellschaft.

Auch die jetzt anstehenden Aufgaben für den Verein übernehmen die Mitglieder, ganz nach ihren Potentialen. So soll es für jeden Bereich Zuständige geben, zum Beispiel für die Zusammenarbeit mit der Gemeinde, für die Öffentlichkeitsarbeit, die Leitung des Hausvereins im Team, die Architektur, Bau und Technik, die Medienpräsenz.

Das sagt der Bürgermeister von Waltenhofen zum Wohnprojekt

33 Mitglieder sind gleich bei der Gründungsversammlung in den Verein eingetreten, der auch Gönner oder Engagierte aufnimmt. Viele Aufgaben stehen nun an. Einiges muss gleichzeitig erledigt werden. Das Wunschgrundstück, das die Gruppe bereits im Auge hatte, steht nicht zur Verfügung. Die Gemeinde möchte dort ein eigenes Projekt realisieren. Dennoch zeigt sich Bürgermeister Stefan Sommer im Gespräch mit dem Kreisboten „Fair-wohnen-Oberdorf“ gegenüber aufgeschlossen. „Ich bin mir nur nicht sicher, ob wir die Klientel in Waltenhofen haben“, sagt er. Auch die Entscheidungsstrukturen seien für ihn noch ein Stück weit undurchsichtig. „An sich ist die Idee, über diesen Weg günstig Wohnraum zur Verfügung zu stellen, sehr interessant“, findet er.

Für das Wohnprojekt heißt das: Weiter Ausschau halten. „Wir suchen jetzt verstärkt nach einer anderen Lösung“, erklärt Thomas Spross.

Mehr Infos: www.syndikat.org Dort ist auch der Film „Das ist mein Haus“ zu finden, der verschiedene Hausgemeinschaften vorstellt, in der Stadt, auf dem Land, vom Jugend- oder Wohnprojekt bis zum Haus mit Werkstätten für Handwerker.

Feste, Konzerte, Ausstellungen: Was man in Kempten und Umgebung unternehmen kann, lesen Sie im Veranstaltungskalender.

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