Experte nach möglichem Atombomben-Flug: US-Arsenal in Europa auf „125 bis 130“ erhöht

Die Stationierung taktischer US-Atomwaffen in Europa ist offenbar erstmals seit dem Kalten Krieg wieder ausgeweitet worden – und zwar still, aber nicht unbemerkt. 

Der anerkannte Rüstungs- und Atomwaffenexperte Hans Kristensen von der Federation of American Scientists geht davon aus, dass sich das US-Atomwaffenarsenal auf europäischem Boden durch eine neue Lieferung aus den USA auf „wahrscheinlich 125 bis 130 Stück“ erhöht hat. Zuvor war über Jahre hinweg stets von rund 100 Bomben die Rede gewesen.

Mehrere britische Medien – darunter „The Times“, „The Telegraph“ und das Fachportal „The War Zone“ – hatten am Montag erstmals detailliert über die Hintergründe berichtet – insbesondere über einen auffälligen Frachtflug aus den USA, der diesen Schluss nahelegt.

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Kristensen zufolge sei eine Verlegung von Atomwaffen auf den britischen Stützpunkt RAF Lakenheath sehr wahrscheinlich. „Die Hinzufügung von Waffen in Lakenheath würde bedeuten, dass die Zahl der US-taktischen Nuklearwaffen in Europa zum ersten Mal seit dem Kalten Krieg erhöht wurde“, erklärte er gegenüber dem „Guardian“.

Zugleich sieht Kristensen darin ein strategisches Umdenken des Westens: „Das würde bedeuten, dass die Nato ihre bisherige Politik aufgegeben hat, nicht mit neuen Nuklearwaffen auf Russlands Verhalten zu reagieren.“ Der Auslöser für die Rückkehr von Atomwaffen nach Großbritannien dürfte die sicherheitspolitische Lage seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 sein.

Offenbare weitere Frachtflüge nach Belgien und in die Niederlande

Anlass für die Spekulationen ist ein US-Militärflug vom Atomwaffenstützpunkt Kirtland in New Mexico zur britischen Luftwaffenbasis RAF Lakenheath. Das Flugzeug vom Typ C-17 Globemaster, betrieben von der 62nd Airlift Wing – der einzigen US-Einheit, die offiziell Nuklearwaffen transportieren darf – flog mit eingeschaltetem Transponder und ohne Rückladung.

Für den früheren Nato-Experten William Alberque ist der Ablauf eindeutig: „Das sieht für mich eindeutig nach einem One-Way-Drop-off aus – und es soll offensichtlich auch so wahrgenommen werden.“ 

Weitere ähnliche Flüge fanden laut „Guardian“ auch nach Belgien und in die Niederlande statt – beides Länder mit bestehender US-Nuklearstationierung im Rahmen der „Nuclear sharing“-Politik der Nato.

„Sensenmänner“ sollen als nukleare Einsatzstaffel fungieren

Offiziell bestätigt ist die Stationierung bislang nicht – und wird es wohl auch nicht. Das britische Verteidigungsministerium verwies auf die übliche Nato-Praxis, „weder zu bestätigen noch zu dementieren, ob sich Nuklearwaffen an einem bestimmten Ort befinden“.

Doch es gibt immer mehr Hinweise. So modernisierte die US-Luftwaffe in den vergangenen Jahren systematisch die nuklearen Schutzbauten in Lakenheath, darunter unterirdische Lager.

Auch die britische Regierung veröffentlichte im Juni ein Verteidigungspapier, in dem angekündigt wurde, Atomwaffen-fähige F-35A-Kampfflugzeuge zu besorgen. Laut „Guardian“ wird die betroffene US-Einheit vor Ort in Lakenheath – die 493rd Fighter Squadron, auch bekannt als „Grim Reapers“(„Sensenmänner“) – künftig als nukleare Einsatzstaffel fungieren.

Challenge Coin mit Atompilz und Totenkopf

Ein weiteres Indiz liefert eine symbolträchtige Neuheit: Bei der Royal International Air Tattoo wurde ein „Challenge Coin“ der Lakenheath-Staffel verkauft – ein Staffelabzeichen in Form einer Atompilzwolke, verziert mit Totenkopf, Rakete und dem Satz „Prepare to meet thy maker“ („Mach dich bereit, deinem Schöpfer zu begegnen“). Für den Luftfahrtjournalisten Tony Osborne, der das Abzeichen fotografierte, ist das eine klare Botschaft: „Es ist eine ziemlich offene Art zu sagen: Ja, wir sind wieder nuklear.“

Das Abzeichen war bereits am zweiten Tag der Flugshow ausverkauft.

Friedensbewegung will Antworten von Keir Starmer

Die britische Friedensorganisation CND fordert nun eine öffentliche Erklärung von Premierminister Keir Starmer. Der Premierminister muss dem Parlament offenlegen, ob sich wieder US-Atomwaffen auf britischem Boden befinden“, forderte CND-Vorsitzender Tom Unterrainer. Es sei „völlig unangemessen“, dass die Öffentlichkeit über so gravierende Änderungen in der Sicherheitslage nur durch Analysten und Medien erfahre.

Auch der Kreml reagierte bereits. Dmitri Peskow, Sprecher von Präsident Wladimir Putin, sprach von einer „Tendenz zur Eskalation, zur Militarisierung – auch im nuklearen Bereich“. Moskau werde genau beobachten, was in Großbritannien geschehe.