In 800 Metern Tiefe - Schweizer Atommüll soll direkt an deutsche Grenze vergraben: Protest gibt es kaum
Warum denn immer Angst haben vor Atommüll – Brennstäbe können doch so süß sein. Das will offenbar die Nagra, die Nationale Genossenschaft für die Endlagersuche in der Schweiz, nahelegen, indem sie eine Kunstfigur namens Benny Brennstab ins Leben gerufen hat. Benny erzählt Geschichten, vor Kurzem etwa, wie er zum hunderttausendsten Mal Weihnachten gefeiert hat.
Viele deutsche Bürger entlang des Hochrheins dürften das nicht sonderlich lustig finden. Nicht nur, dass drei der vier aktiven Schweizer Reaktorblöcke nahe der Grenze stehen, darunter die beiden Blöcke in Beznau, die mit rund 55 Jahren zu den dienstältesten AKWs der Welt zählen.
Eine Million Jahre Schutz in 800 Metern Tiefe?
Jetzt soll auch noch das Endlager in nicht einmal drei Kilometern Entfernung vom Rhein geplant werden, konkret bei der Gemeinde Stadel im sogenannten Gebiet Nördlich Lägern (Kanton Zürich).
Die notwendige Verpackung der Brennelemente soll am Kernkraftwerk Beznau erfolgen, knapp 20 Kilometer Luftlinie von Stadel und knapp zehn Kilometer von Waldshut-Tiengen entfernt.
Bis 2075 produziert die Schweiz rund 83.000 Kubikmeter Atommüll
Im November hat die Nagra offiziell die Genehmigungsunterlagen eingereicht – die Realisierung rückt näher. Oberirdisch wird man irgendwann nur eine kleine Gebäudeanlage sehen, aber in 800 Metern Tiefe im Opalinuston, der eine Million Jahre lang Schutz bieten soll, werden dann Abertausende von Kubikmetern an Atommüll gelagert.
Das Schweizer Bundesamt für Energie rechnet bis 2075 mit rund 9300 Kubikmetern an hochradioaktiven Abfällen und mit rund 73.000 Kubikmetern an schwach- und mittelradioaktiven Abfällen. Der hochradioaktive Teil entspricht laut der Nagra einem Volumen von acht Einfamilienhäusern.
„Akzeptanz darf man von uns nicht erwarten. Aber ein Stück weit Toleranz.“
Aber eine große Protestbewegung gibt es auf deutscher Seite bisher nicht. Auch bei einer Veranstaltung in Waldshut im Dezember kamen viele kritische Fragen, aber kein grundsätzlicher Widerstand. Die Stimmung in der Bevölkerung sei gemischt, sagt Jürgen Wiener, der Bürgermeister der angrenzenden und am direktesten betroffenen deutschen Gemeinde Hohentengen (Landkreis Waldshut) mit seinen 4000 Einwohnern.
Er selbst betont: „Akzeptanz darf man von uns nicht erwarten. Aber ein Stück weit Toleranz, wenn sie uns die entsprechenden Lösungen und Antworten auf unsere Fragen liefern.“
Fragen gibt es mehr als genug. So irritiert viele, dass Nördlich Lägern bis vor einigen Jahren als recht ungeeignet galt, jetzt soll das plötzlich der beste Standort in der ganzen Schweiz sein. Die Einschätzung der Nagra sei damals zu vorsichtig gewesen, argumentieren die Planer: „Dank der heute vorliegenden, guten Datenlage konnte die Nagra die bautechnische Eignung neu beurteilen.“
Gebiet auf deutscher Seite kam nicht für Endlager in Frage
Dort liege der Opalinuston in der richtigen Tiefe, Qualität und Ausdehnung sowie verhältnismäßig ungestört vor. Und er bleibe auch langfristig sehr stabil.
Unverständlich ist für viele Bürger daneben, dass das deutsche Gebiet um Hohentengen, also nur einen Steinwurf vom Schweizer Tiefenlager entfernt, als Endlager für Deutschland von vorneherein ausgeschlossen worden ist; die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) hat es gar nicht weiter untersucht.
Auf Nachfrage betont BGE-Sprecher Sven Petersen: „Tatsächlich ist der Opalinuston auf der deutschen Seite stark beeinträchtigt von einer großen Störungszone, der Freiburg-Bodensee-Scherzone.“
Das Gebiet gelte deshalb als wenig geeignet. Zudem sei es in einer ersten Bewertung im Jahr 2020 als Erdbebenzone eingeschätzt worden. Die Kriterien hätten sich zwar seither geändert, aber trotzdem komme das Gebiet für ein Endlager nicht in Betracht.
Jetzt geht es um zwei Dinge: Beteiligung und Geld
In den nächsten Jahren wird es nun um eine ausreichende Beteiligung und um ausreichend Geld gehen. Gebündelt werden die deutschen Interessen in der Deutschen Koordinationsstelle Schweizer Tiefenlager in Waldshut-Tiengen.
„Wir arbeiten im Landratsamt in zahlreichen Arbeitsgruppen mit, bringen unsere Expertise permanent ein und machen uns stark für die Positionen unserer Bürgerinnen und Bürger“, sagt etwa Martin Kistler, der Landrat von Waldshut. Umweltministerin Thekla Walker (Grüne) betonte, dass die Beteiligung des Landes gewährleistet sei. Die deutschen Gemeinden müssten genau gleich behandelt werden wie die schweizerischen.
Für Walker hat das Thema Sicherheit absolute Priorität: „Kosten dürfen hier keine Rolle spielen.“ Wenn alle Fragen akzeptabel beantwortet seien, werde man den Standort aber am Ende akzeptieren.
Auf deutscher Seite hat die sogenannte Deutsche Expertengruppe Schweizer Tiefenlager die Unterlagen vor zwei Jahren geprüft: Sie halte die Begründungen der Nagra zur Wahl von Nördlich Lägern auf Basis der derzeit vorliegenden Informationen für „nachvollziehbar und plausibel“, schrieb sie.
Gesamtsumme von 800 Millionen Franken als Entschädigung?
Und weiter: „Der Standort ist nach derzeitigem Kenntnisstand als sicherheitstechnisch am besten geeignet einzustufen.“ Derzeit überprüfe die Expertengruppe ihre Einschätzung nochmals, so Walker.
Daneben wird bereits hart über die Höhe der Entschädigung verhandelt. Offiziell spricht man von einem Ausgleich, der für den Beitrag der Region für die Lösung einer nationalen Aufgabe bezahlt werde. Vor einigen Jahren war die Rede von einer Gesamtsumme von 800 Millionen Franken.
Bürgermeister Jürgen Wiener sagt: „Wir brauchen das Tiefenlager nicht und auch nicht das Geld – wir würden auf beides verzichten, wenn wir könnten.“
Aber natürlich will er das Beste für seine Gemeinde herausholen. Schließlich müssten die Menschen eine Million Jahre lang mit dem Atommüll leben. Und schließlich beeinträchtige das Lager den Tourismus, senke den Wert der Immobilien und habe womöglich Einfluss auf das Grundwasser.
Auch Thekla Walker bestätigt, dass derzeit schon „teils kontrovers“ über die Summen diskutiert werde. Die Schweiz sei zwar interessiert daran, Deutschland einzubeziehen. Dem deutschen Wunsch nach einem festen Anteil an den zu verhandelnden Abgeltungen sei aber nicht nachgekommen worden. Jürgen Wiener geht im Moment trotzdem davon aus, dass die Verhandlungen fair und auf Augenhöhe geführt würden.
Atomaktivist spricht von "atomarer Käuflichkeit"
Der Atomaktivist Axel Mayer aus Endingen am Kaiserstuhl, der schon vor 50 Jahren bei den Protesten gegen das geplante AKW Wyhl dabei war, sieht Nördlich Lägern dagegen äußerst kritisch.
Der Opalinuston sei im internationalen Vergleich sehr dünn, meint er. Vor allem handle es sich um eine politische Wahl: In Grenznähe sei mit dem geringsten Widerstand zu rechnen, vermutet Mayer. Viele Gemeinden und Landkreise hofften zudem auf einen großen Geldsegen als Ausgleich – Axel Mayer geht soweit, von "atomarer Käuflichkeit" zu sprechen.
Noch wird es aber dauern. Das Bundesamt für Energie prüft jetzt das sogenannte Rahmenbewilligungsgesuch, das die Nagra im November eingereicht hat. Frühestens um 2030 wird die Schweizer Bundesversammlung darüber abstimmen, womöglich kommt es noch zu einem Referendum der Bürger. Ab 2034 könnte gebaut werden, um 2050 begänne dann die Einlagerung von zunächst schwach- und mittelradioaktiven Abfällen.
Von Thomas Faltin
Das Original zu diesem Beitrag "Schweizer Atommüll-Endlager rückt an die deutsche Grenze" stammt von Stuttgarter Zeitung.