„Russland ist der Feind“ – Historiker warnt vor Nachsicht gegenüber Putin

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„Russland ist der Feind“: Der Historiker Karl Schlögel ist jetzt erneut ausgezeichnet worden dafür, dass er das Verständnis für Russland geprägt hat. Schlögel vertritt eine dezidierte Meinung – die geeignet ist, eine Eskalation mit Russlands Machthaber Wladimir Putin zu provozieren (Archivfoto). © Gerhard Leber

Offensiven ohne Pardon; Drohungen ohne Scham – Wladimir Putin dirigiert Europa. Jetzt mahnt der Nächste, dass Zuschauen ein krasser Fehler ist.

Düsseldorf – „Russland testet, wie weit es gehen kann“, schreibt Karl Schlögel. Der 76 Jahre alte Historiker und ehemalige Professor ist gerade in Düsseldorf mit dem Gerda Henkel Preis ausgezeichnet worden – gewürdigt wird Schlögel vor allem dafür, dass er „unser Verständnis der neueren Geschichte Russlands, der Sowjetunion und des östlichen Europa wesentlich geprägt hat“, wie die Jury entschieden hat.

„Russland ist ein Staat, der in Europa einen Krieg angefangen hat, und darauf müssen sich die Deutschen einstellen. Das heißt: verteidigungsbereit sein, abwehrbereit sein“, sagt Schlögel, wie ihn das Nachrichtenmagazin Spiegel zitiert. Auch Deutschland müsse sich demnach gegen Wladimir Putin wappnen. „„Russland ist der Feind“, sagte Schlögel gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa).

Schlögel wird gerade sekundiert vom Nachrichtenmagazin Politico:Europa wird von Russland angegriffen. Warum wehrt es sich nicht?“, fragen dessen Autoren. Zwar rollten noch keine Panzer durch das östliche Grenzland der Nato, dennoch führe Russland auf subtilere Art Krieg gegen die westliche Art zu leben. Politico trägt zusammen, dass westliche Behörden Moskau als Drahtzieher vermuten hinter „Brandanschlägen in PolenGroßbritannienTschechien, Deutschland, Litauen und Lettland. Und deutsche und amerikanische Regierungsvertreter sagen, sie hätten ein russisches Attentat auf Armin Papperger vereitelt“, schreibt das Magazin.

Deutsche Analyse: „Putin ist ein meisterhafter Choreograf und Analytiker der Schwächen der Gegenseite“

Papperger ist Chef der deutschen Rüstungschmiede Rheinmetall und somit ein wichtiger Lieferant von Munition und Panzern, die die Ukraine gegen Russland noch im Spiel halten. Historiker Schlögel steht für genau diese Haltung, wie ihn der Spiegel zitiert. Der Wissenschaftler prophezeit demnach weitere Attacken gegen westliche Staaten. „Putin ist ein meisterhafter Choreograf und Analytiker der Schwächen der Gegenseite. Ich glaube nicht, dass er einen festen Plan hat, aber er hat immer wieder gesagt, dass es keine festen Grenzen der russischen Welt gibt.“

„Um Russland in der Ukraine Einhalt zu gebieten, ist es daher erforderlich, von den reaktiven Ansätzen der letzten zwei Jahre abzurücken und eine proaktivere Strategie zu verfolgen.“

Demnach ist ihm der Kurs des Westen – respektive auch der Kurs Deutschlands – möglicherweise zu windelweich. „Wir haben von Beginn an gesagt, wir handeln immer lageangepasst“, wiederholt Generalmajor Christian Freuding in jeder öffentlichen Stellungnahme. Im Bundeswehr-Podcast Nachgefragt bezieht der Offizier im Sonderstab Ukraine im Verteidigungsministerium wiederholt Stellung zum Frontverlauf – der sich Tag um Tag weiter in die Ukraine hineinfräst. Die Einschätzung der Lage klafft immer weiter auseinander, je länger der Krieg dauert. Putin mag damit erreichen, was ihm als sekundäres Ziel lohnenswert erscheint: die Spaltung der einzelnen Gesellschaften, die Spaltung der Nato untereinander sowie die Individualisierung der USA.

„Um Russland in der Ukraine Einhalt zu gebieten, ist es daher erforderlich, von den reaktiven Ansätzen der letzten zwei Jahre abzurücken und eine proaktivere Strategie zu verfolgen“, schreiben Elizabeth Hoffman und Benjamin Jensen. Die beiden Wissenschaftler von der Denkfabrik Center for Strategic & International Studies (CSIS) fordern eine strategische Weitsicht, die der bisherigen und noch zu befürchtenden Länge dieses Krieges entspricht, anstatt vom einzelnen Scharmützel zum nächsten Gefecht zu denken.

Russische Analyse: In der Extremsituation bleibe Putin ein Beschützer und Retter

Aller Entwicklungen an der Front zum Trotz würden sich die Russen gleichermaßen weiterhin um Putin scharen, betont Waleri Fjodorow, der Politologe und Chef des russischen Meinungsforschungsinstituts VCIOM im Interview mit dem staatlichen Sender RBC: „So unterschiedlich diese Gruppen auch waren, alle, mit Ausnahme derjenigen, die weggezogen waren, schlossen sich um Wladimir Putin zusammen. Sie halten ihn nicht nur als Symbol, sondern auch als rettenden Anker fest. In der Extremsituation, in der sich Russland heute befindet, bleibt Putin ein Beschützer und Retter“, sagt er.

Demnach steht zu vermuten, dass Putin seine völkerrechtswidrigen Eskapaden über kurz oder lang mithilfe der Bevölkerung auszudehnen versuchen wird – Schlögel geht fast davon aus, dass die Bedrohung gegen andere Völker latent bleiben werde. Auch Beniamino Irdi und Gabriele Carrer sehen Europa an einem möglichen Start einer neuen Eskalation – sie rechnen den Trump-Faktor mit ein: „Der Wahlsieg des designierten US-Präsidenten Donald Trump hat den Kreml dazu veranlasst, ein riskantes Spiel zu begehen: Trumps Wunsch nach einer schnellen Lösung des Krieges in der Ukraine könnte zu einer Einigung führen, die den Konflikt in seinen derzeitigen Bahnen einfriert und Moskaus Gebietsgewinne legitimiert“, schreiben die beiden Analysten des US-Thinktank Atlantic Council.

Geopolitische Lage: US-Demokraten und -Republikaner sagen, dass der Schwerpunkt eigentlich China sei

Demnach hätte Russlands Streitkräfte seit der US-Wahl ihre Militäroffensive verstärkt und würden das bis zur Amtseinführung noch forcieren, weil Wladimir Putin offenbar Fakten schaffen wolle, die Donald Trump dann voraussichtlich fixieren werde. Im Anschluss daran rechne die Welt damit, dass sich die USA aus Europa zurückzögen und Europa urplötzlich allein für sein Wohlergehen werde sorgen müssen.

Einer von Deutschlands bekanntesten Militärhistorikern, Sönke Neitzel, hatte noch Ende November vergangenen Jahres gegenüber der ARD gewarnt, dass sich allein schon durch den Krieg der Hamas gegen Israel der Fokus der US-Amerikaner zugunsten Israels verschoben habe. Darüber hinaus beurteilt Neitzel die Situation auf dem osteuropäischen Kriegsschauplatz vor allem deshalb als schwierig, „weil die Republikaner und Teile der Demokraten immer schon gesagt haben, dass der Schwerpunkt eigentlich China ist“. Seiner Meinung nach sehen die Amerikaner eher die Europäer am Zuge der Ukraine zu helfen. 

„Wir wissen aber auch: Ohne die USA gäbe es die Ukraine nicht mehr; und ohne die USA wäre auch Europa außerstande, die Ukraine so sehr zu unterstützen, dass sie diesen Krieg weiterhin führen könnte.“ Die grundsätzlich spannende Frage also ist: Wie lange werden die USA die Ukraine noch am Leben halten? Für die US-Wissenschaftler in ihrer aktuellen Analyse eine klare Angelegenheit – und faktisch ein alter Hut: Die Dichotomie zwischen politisch verantwortungsvollem Vorgehen und wissenschaftlich geboten erscheinenden Handelns: Frieden sei kein Frieden, wenn er zu einem weiteren russischen Vorstoß führte, konstatieren die Wissenschaftler.

Klare Haltung: Kreml keine Chance bieten, „die Ukraine als unabhängiges Land auszulöschen“

Wenn die Vereinigten Staaten ihre Unterstützung für Kiew reduzierten, müsse Europa der Versuchung widerstehen, eine voreilige, ungerechte Lösung anzustreben – Beniamino Irdi und Gabriele Carrer stützen voll und ganz die These Schlegels, dass Putin seine Grenzen austeste. Allerdings argumentieren sowohl Irdi, wie Carrer, Schlegel oder Neitzel weitab von jeglicher Verantwortung. Und sowohl Schlegel als auch Neitzel verstehen sich in ihrer Rolle als Historiker in der rückschauenden Perspektive und bewerten das, was geschehen ist.

Politische Berater wir Irdi oder Journalisten wie Carrer bewerten das, was gerade geschieht. Auch die Parlamentarier beispielsweise im Deutschen Bundestag stimmen in der Regel fraktionsweise über eine Entscheidung ab, ohne einzeln in die Verantwortung genommen werden zu können. Lediglich die regierenden Politiker haben eine Entscheidung individuell zu verantworten; egal, ob sie defensiv oder offensiv gehandelt haben. Klein beigegeben beziehungsweise Russlands Drohungen ernst zu nehmen, um des lieben Frieden willens, „würde der Abschreckung des Westens katastrophalen Schaden zufügen“, schreiben Irdi und Carrer und befürworten deutlich einen Ritt auf der Rasierklinge.

„Für Putin wäre es zudem eine willkommene Atempause, die es ihm ermöglichen würde, sich neu zu organisieren und einen neuen Vorstoß in Richtung des vom Kreml wiederholt erklärten Ziels vorzubereiten, die Ukraine als unabhängiges Land auszulöschen.“

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