Nach 35 Jahren übergibt Tünay Kiracli seinen Dönerladen in Kempten – ein Stück Imbissgeschichte lebt mit Familie Dogan weiter.
Kempten – Viele Schülerinnen und Schüler des Berufsschulzentrums, aber auch viele Erwachsene schätzen den Kebap des Tünay Imbisses in der Kotterner Straße. Die Wenigsten wissen jedoch, dass sie hier jahrelang vom dienstältesten Dönerverkäufer Kemptens bedient wurden. Damit ist jetzt Schluss: Mit 70 Jahren hört Tünay Kiracli auf und übergibt den Laden dem jungen Ehepaar Dogan.
1980 kam der 25-jährige Fotografenmeister und Hobbymusiker mit einem drei Monate lang gültigen Touristenvisum nach Deutschland. Er stammt aus Icme im Bezirk Elazig. Der junge Tünay blieb aber auch nach dem Ablauf des Dokuments, der Grund: die Liebe zur vier Jahre jüngeren Remziye. Deren Familie zog bereits 1973 aus Bafra in der Provinz Samsun nach Kempten. Sie fing in der Käserei Champignon an zu arbeiten und wechselte später zu Swoboda. Die beiden heirateten.
Schwierige Startbedingungen im neuen Land
Die Voraussetzungen für die berufliche Integration von Tünay waren schwierig. Die Wirtschaftskrise der 70er-Jahre setzte dem „Wirtschaftswunder“ ein Ende, die Arbeitslosigkeit stieg, unter den „Gastarbeitern“ überproportional. Trotz des Anwerbestopps für ausländische Arbeitnehmer Ende 1973 wuchs die türkischstämmige Bevölkerung durch Familienzusammenführungen, befeuert durch die Dauerkrise in der Türkei.
Unter diesen Umständen durfte Tünay Kiracli vier Jahre lang nicht arbeiten. Seine türkische Meisterprüfung wurde nicht anerkannt. Er schlug sich mit häufig wechselnden Gelegenheitsjobs durch. Und er sang mit einer Musikkapelle regelmäßig auf türkischen Hochzeiten.
Kiracli bringt den Döner nach Kempten
Den Wendepunkt brachte ein Besuch in München, erzählt Kiracli. Dort schaute er bei einem Imbisstand neugierig zu, wie ein Döner zubereitet wird. Als er ihn dann auch gekostet hatte, war ihm klar: „Das ist mein Ding.“
Um diese Zeit, gegen Ende der 80er-Jahre, war der Döner Kebap bereits das meistverkaufte Imbissgericht in der Bundesrepublik, mit höheren Verkaufszahlen als der Hamburger oder die Currywurst, stellt Maren Möhring fest („Fremdes Essen“, Oldenbourg Verlag 2012). Das Wort „Kebap“ ist arabischen Ursprungs und bedeutet „Braten“ und wird für jegliche Art von gegrilltem Fleisch verwendet. Der türkische „Döner“ kann mit „Dreh-“ übersetzt werden.
Die Ursprünge des Döners
Der Drehspieß ist eine relativ junge Erfindung der osmanischen Küche, der Mitte des 19. Jahrhunderts „auf die Beine kam“, das heißt senkrecht aufgestellt wurde, schreibt Eberhard Seidel („Döner. Eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte“, März Verlag 2022). Für den genauen Ursprung gibt es mehrere Hypothesen, Kiracli spricht vom Kaukasus-Gebiet, andere vermuten griechische Wurzeln. Dieser Döner Kebap wurde allerdings als Tellergericht verzehrt. Gäste aus türkischen oder zugewanderten Familien bevorzugen bis heute oft diese Variante, weil man dabei sitzen und sich für das Essen Zeit nehmen kann.
Bei der „Geburt“ des Döners als Zwischenmahlzeit zum Mitnehmen in Deutschland half die Tradition derartiger Imbisse hierzulande. Praktisch zum Anfassen war hierbei schon immer eine Art „Brothülle“, denke man an Hot Dog, Hamburger oder Leberkässemmel. Deswegen kann die Idee, das Fleisch in eine Teigtasche („pide“) zu stecken, als revolutionär bezeichnet werden. Deutschlandspezifisch ist auch der Einsatz unterschiedlicher Saucen.
Bahnhof Zoo oder Reutlingen? Wo wurde der erste Döner Deutschlands serviert?
Für den Ursprung dieser Variante gibt es wieder einmal mehrere Erzählungen. Am weitesten verbreitet ist die, die den ersten Verkauf Kadir Nurman 1972 am Bahnhof Zoo in Berlin zuschreibt. Allerdings berichtet Seidel auch von einer anderen Spur, die 1969 zum Stand von Nevzat Salim auf das Stadtfest von Reutlingen führt.
Der „German Döner“ trat seinen Siegeszug an, zunächst in Berlin, in den 80ern in den größeren Universitätsstädten und ab den 90ern gleichzeitig in der westdeutschen Provinz und in Ostdeutschland. Begünstigt wurde der Boom auch durch die Vielzahl von Menschen, die in der Eröffnung eines Imbissstandes einen möglichen Fluchtweg aus der Arbeitslosigkeit sahen.
Zuerst im Feinkostladen
Der deutsche Staat machte ihnen diesen Weg jedoch nicht einfach: Eine Aufenthaltsberechtigung, die selbstständige Tätigkeit erlaubte, erhielt man erst nach acht Jahren nach der Ankunft in Deutschland. Eine Kooperation mit Geschäftspartnern, die bereits eine Konzession hatten, bedeutete für etliche den ersten Schritt.
So ging es auch bei Kiracli los: Er bot Döner in einem Feinkostladen in Memmingen an. Die Metzgerei seines Vertrauens war aber in Kempten. Einen Führerschein, geschweige denn ein Auto hatte er aber nicht, erzählt er. In der Früh holte er das bestellte Fleisch vom Schlachthof, dann fuhr er mit dem Taxi zum Bahnhof und mit dem Zug nach Memmingen.
„Elefantenkeule“ in der Zentralhauspassage
Damit war 1990 Schluss: Anstelle eines früheren Stehcafés in der Passage des Zentralhauses eröffnete er seinen ersten eigenen Dönerladen, gleichzeitig den ersten dieser Art in Kempten (Döner Kebap gab es bereits vorher in manchen türkischen Speiselokalen). Ab diesem Zeitpunkt war auch seine Frau Remziye dabei.
Für die meisten Deutschen war das Angebot zunächst fremd. Kiracli erinnert sich noch immer an zwei ältere Herrschaften, die meinten, er würde Elefantenoberkeule verkaufen. In der ersten Zeit waren die Gäste vor allem Türken und Griechen, die jedoch bald ihre deutschen Freunde und Arbeitskollegen mitbrachten, um sie diese Spezialität probieren zu lassen.
Alles frisch
In den folgenden Jahren bekam er Konkurrenz, 1995 gab es bereits vier ähnliche Läden, erinnert er sich. Viele seiner Mitbewerber arbeiten jedoch mit der von der umfangreich gewordenen Döner-Industrie angebotenen Fertigspießen. Er ist dabeigeblieben: Bei ihm wird alles selbstgemacht: Vom Einkaufen über das Marinieren und Schichten bis zum Fladenbrotbacken.
Er war jedoch offen für Neues, beispielsweise stand der Adana-Kebap in Kempten zuerst bei ihm in Angebot. Auch sein Wissen und seine Erfahrungen gibt er nun Ugur (37) und Kübra Dogan (35) weiter. In der ersten Zeit möchte er die beiden noch unterstützen, seine Frau will ihre Zeit ganz der Familie widmen. Die beiden Söhne haben studiert und leben inzwischen in München.
Das Geschäft der Kiraclis ist mehrmals umgezogen
Das Geschäft der Kiraclis wechselte mehrmals den Standort: 1993 in die Bäckerstraße, 1995 ins Nürnberger Haus, ab 2001 führten sie ein Speiselokal in Sonthofen. 2004 kamen sie wieder nach Kempten in die Lindauer Straße zurück. 2007 ging es in die Kronenstraße und 2010 zum jetzigen Standort in der Kotterner Straße.
Und wie blicken die beiden auf die Zeit zurück? Anfangs sei es sehr schwer gewesen, erinnert sich der 70-Jährige. Er habe als Fotograf und Sänger nie gedacht, dass er je so was machen würde. Aber er tat es für die Familie. „Aber wir haben die Arbeit immer mit Liebe gemacht“, fügt seine Frau hinzu.
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