„Äußerst schlampig“: Militär-Experte erklärt Russlands kapitalen Fehler bei Putins „Pearl Harbor“
Die Ukrainer dürften erstaunt gewesen sein, wie schlecht Russland seine Flughäfen und Kampfjets gegen Drohnen schützt. Ein Experte nennt Moskaus größten Fehler.
Mainz – Jetzt hat also auch Wladimir Putin sein „Pearl Harbor“. Mit dem historischen Luftangriff von Japan auf den US-Marinestützpunkt auf Hawaii im Zweiten Weltkrieg wird die aktuelle ukrainische Drohnen-Attacke auf mehrere Flughäfen der russischen Luftwaffe bereits verglichen. Während fast die ganze Welt von der erfolgreichen Mission Kiews überrascht wurde, wurden Putin und sein Russland überrumpelt und düpiert. Die Drohnen sollen Dutzende Flieger unbrauchbar gemacht haben, der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU sprach von einem Schaden von sieben Milliarden US-Dollar. Doch was bedeutet der Verlust für Putins Angriffskrieg genau? Experten zeichnen ein klares Bild.
Putin und sein „Pearl Harbor“ – Militärexperte attestiert Ukraine einen „großen Coup“
Die Luftschläge auf Russlands Flughäfen und Kampfjets haben jedenfalls Erinnerungen an frühere Attacken der Verteidiger im Ukraine-Krieg auf Militäreinrichtungen auf russischem Boden wachgerüttelt. Oder auf den Vormarsch von Kiews Streitkräften in der Region Kursk im vergangenen Spätsommer, den Moskau nach eigenen Angaben erst in diesem Frühjahr zurückschlagen konnte.
Bereits jene Bodenoffensive in Putins Reich ließ darauf schließen, dass der mächtige Präsident bei allem Invasionseifer die Sicherung des eigenen Gebiets sträflich vernachlässigt. Als würde er der Ukraine gar nicht zutrauen, sich auch nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ wehren zu können.
Auch Gustav Gressel staunt über die Mission, die die Militärführung um den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj an diesem Wochenende nach mehr als einem Jahr Vorbereitung umgesetzt hat. „Das ist natürlich ein großer Coup, der den Ukrainern hier gelungen ist“, urteilte der österreichische Politikwissenschaftler im ZDF-„heute Journal“.
„Schon äußerst schlampig“: Experte vermisst Störsender an Russlands Militär-Flughäfen
Zuletzt habe Kiew 2023 ähnliche Schläge auf Flughäfen erfolgreich unternommen, diese hätten jedoch eher auf grenznahe Stützpunkte abgezielt. Doch auch daraus scheinen Putin und seine Gefolgsleute nicht gelernt zu haben. Dieser ukrainische Schlag sage über Russland aus, „dass die Flughäfen gegen Kleindrohnen scheinbar wirklich nicht geschützt wurden“, betont Gressel.
Zwar sei auf den Videos der Angriffe Maschinengewehrfeuer zu hören, „aber an und für sich muss man ja solche Flughäfen durch Maßnahmen der elektronischen Kampfführung – also Störsender – schützen und durch Nahverteidigungs-Fliegerabwehrsysteme“. Dass die Drohnen ihre Angriffe überhaupt mit der Welt teilen konnten, ist ein weiteres Alarmsignal für den Kreml. Denn die Flugobjekte hätten ihre Bilder „anscheinend über das russische Mobilfunknetz, in das sie eingewählt waren“, gesendet.
Es klingt nach „Setzen, sechs“ in Richtung Russland, wenn der Militärexperte fortführt: „Mobilfunkstörer ist eigentlich nicht die hohe Kunst, wurde aber anscheinend unterlassen. Und das bei Flughäfen, die Teile der strategischen Bomber-Flotte beherbergen. Das ist schon äußerst schlampig.“
Experte über Ukraine-Coup gegen russische Kampfjets: „Enormer materieller symbolischer Schaden“
Thomas Jäger geht ebenfalls mit Putin und dem gesamten Kreml hart ins Gericht. Im ntv-Interview moniert der Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität Köln: „Die Abwehr hat versagt. Und das in einem Maß, das aufschrecken muss in Russland. Da werden weit über den militärischen Schaden, der enorm ist, hinaus auch die zivilen Beziehungen betroffen sein.“
Moskau müsse jetzt seine Schlüsse aus dem Desaster ziehen: „Russland muss jetzt sehen, wie es seine Flugzeuge besser schützt. Das wird man nicht nur in Russland überlegen, ob man zu anderen Maßnahmen greifen muss, um etwa diese teuren Fluggeräte vor solchen Angriffen zu schützen.“ Auf jeden Fall sei für das Land „ein enormer materieller symbolischer Schaden“ entstanden.

In Anspielung auf die Fahrzeuge, die die Drohnen tief in Putins Reich transportiert haben, ergänzt der 64-Jährige, Russland müsse sich künftig diese Fragen stellen: „Was ist in jedem Lastwagen drin, der russisches Gebiet erreicht? Was ist in jedem Container drin, der russisches Gebiet erreicht?“ Also deutlich misstrauischer werden. Das kostet Aufmerksamkeit und Zeit. Was wiederum der Ukraine zugute kommen dürfte.
Putin und seine Luftangriffe auf die Ukraine: „Jetzt zu wenig Flugzeuge für die Munition“
Gressel vermutet jedoch, dass der Kiewer Coup auf die wohl bevorstehende russische Offensive in Sumy wahrscheinlich keine Auswirkungen haben werde, denn diese werde schon seit Monaten vorbereitet. Anders sehe das bei den regelmäßigen Luftangriffen aus, zumindest in Bezug auf jene mit Marschflugkörpern.
„Da war es immer schon so, dass die maximale Anzahl der in einer Nacht gestarteten Marschflugkörper durch die verfügbaren Flugzeuge begrenzt war“, erklärt Gressel: „Diese Zahl ist natürlich jetzt dramatisch nach unten gegangen.“ 41 Kampfjets seien zerstört oder schwer beschädigt worden, nannte der 46-Jährige eine konkrete Zahl und ergänzte: „Die russische Bomberflotte ist insgesamt knapp 110 Flugzeuge stark.“ Jetzt aber nicht mehr, wodurch Putin und Russland in ein ziemliches Missverhältnis hineinmanövriert wurden.
„Obwohl die Produktion von Marschflugkörpern, also Munition für diese Bomber, in Russland stark zugenommen hat, gibt es jetzt zu wenig Flugzeuge, um die Munition auch zu verschießen“, schildert Gressel das neueste Moskauer Dilemma.

Ukrainischer Drohnen-Coup vor Istanbul-Gespräche: „Russischer Hochmut etwas gedämpft“
Und auch die zu Verhandlungen über ein Waffenstillstands-Abkommen nach Istanbul gereiste russische Delegation dürfte die jüngste Entwicklung im Ukraine-Krieg zu spüren bekommen, vermutet der Experte für Sicherheits- und Verteidigungsfragen. Zwar habe er auch vorher keine konkreten Ergebnisse von diesen Gesprächen erwartet.
Doch das bei vorigen Terminen offenbar sehr hochnäsige Auftreten der Moskauer Vertreter gegenüber der ukrainischen Delegation werde wohl diesmal nicht neu aufgelegt: „Dieser Hochmut dürfte etwas gedämpft sein.“ Aber das haben sich Putin und seine Unterstützer selbst zuzuschreiben, wie aus Gressels Worten deutlich wird. (mg)