Speerspitze am ukrainischen Himmel: Putins Truppen schwören auf die SA-15-Tor-Raketen

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Russlands Speerspitzen im Himmel über der Ukraine: SA-15 Tor-Raketen. Pfeilschnell und tödlich – wenn die Besatzung nicht vor Müdigkeit umfällt (Archivfoto). © imago

Russland will die Lufthoheit über der Ukraine endlich erringen – und setzt auf tödliche Raketenabwehr, die manchmal Freund und Feind verwechselt.

Moskau – Russland hat noch die Chance, den Luftraum für sich zu erobern – wenn Wladimir Putins Truppen hellwach genug dafür blieben. Auch deshalb gibt sich „Panzer-Toni“ als einer der erbittertsten Gegner von Wladimir Putin und fordert von der Bundesregierung, kompromisslos gegenüber Russland zu handeln: Ansonsten würde Putin vielleicht doch noch den Eindruck gewinnen, er könne den Ukraine-Krieg tatsächlich für sich entscheiden – „eben wegen der deutschen Zögerlichkeiten“, wie „Panzer-Toni“ im Phönix-Interview am Rande des jüngsten Grünen-Parteitags in Karlsruhe kritisiert hat.

Seinen neuen Spitznamen verabscheut Anton Hofreiter (Grüne), der Vorsitzende des Europa-Ausschusses im Deutschen Bundestag zwar, aber Anton „Panzer-Toni“ Hofreiter verteidigt genauso vehement sein Bekenntnis zur Stärkung der Luftabwehr der Ukraine gegenüber Russland ohne Wenn und Aber. Wie am Boden herrscht offenbar auch am Himmel über der Ukraine ein Patt. Noch.

Beide Gegner versuchen sich mit ihrer Luftabwehr weitestgehend zu neutralisieren, um ihren Bodentruppen Bewegungsmöglichkeiten für Offensiven offen zu halten. Tatsächlich hatten verschiedene Beobachter im September vergangenen Jahres die meisten Angriffe via Artillerie oder Raketen gemeldet – inzwischen ist das Niveau trotz intensiver Kämpfe am Boden wieder gesunken. Ohne Garantie, dass das so bleibt; wenn die Munition reicht.

Die Briten warnen: Drohnen werden immer schlauer

Dennoch warnt der britische Geheimdienst in seinen regelmäßigen Veröffentlichungen auf dem Nachrichtenkanal X (vormals Twitter) vor Russlands Anstrengungen, den Himmel für sich zu erobern, speziell warnen die Briten vor der möglicherweise entscheidenden Rolle des russischen Kurzstrecken-Boden-Luft-Raketensystems (Surface-to-Air-Missiles) SA-15 „Tor“ bei der Abwehr ukrainischer Angriffe an den verschiedenen Fronten. Die Abwehr von Drohnen wird künftig bezahlbarer werden, erläutern Experten gegenüber Newsweek; die Entwicklung von Drohnen und Abwehr-Maßnahmen laufen parallel. „Die Ukraine hat bewiesen, dass sie ihre Gewehre packen und damit den Himmel säubern kann“, lobt beispielsweise Oleg Vornik, Geschäftsführer des US-australischen Abwehr-Spezialisten „DroneShield“. Die Zeiten sind vorbei.

Zum nahenden Ende des zweiten Kriegsjahres werden nämlich auch die Drohnen schlauer. Nachdem der Ukraine-Krieg und die Gegenoffensive zunächst die Innovationskraft für die Herstellung von Drohnen bewiesen hat, ist Vornik sicher, dass jetzt die Zeit der Entwicklung von Drohnen-Abwehr einsetzt. In John-Wayne-Manier die Drohnen vom Himmel zu schießen, sei jedenfalls schon lange keine effektive Strategie mehr.

Mit der Tor-Rakete eine zivile Boing zerstört

Die Tor-Rakete in ihren verschiedenen Entwicklungsstufen ist allerdings wie auch der deutsche Gepard-Flugabwehrkanonen-Panzer eher ein Oldtimer und ein erprobtes Kind aus den Zeiten des Sowjetreiches – 1986 war das System erstmals eingesetzt worden. Die Welt das Fürchten lehrte die Tor-Rakete 2020 aufgrund ihrer Fehlerhaftigkeit: Weil die autonom reagierende Zielerfassung irrtümlich einen Marschflugkörper in ihrer Nähe wähnte, beschoss das System der iranischen Flugabwehr eine zivile Passagiermaschine von Teheran auf dem Weg nach Kiew. Experten waren sich schnell einig, dass die Boeing 737-800 von einer Tor-M1-Rakete getroffen worden war. 

Irrtümer sind in diesem System unvermeidbar – allein aufgrund von dessen Schnelligkeit: Tor-Raketen werden vom Radar gesteuert und fliegen mit fast dreifacher Schallgeschwindigkeit. Das bedeutet: Wenn sie auf ein fünf Kilometer entferntes Ziel abgefeuert werden, treffen sie dort innerhalb von etwa fünf Sekunden auf. Sie verfügen über einen kleinen Sprengkopf – etwa 15 Kilogramm hochexplosives Material –, sind jedoch so konzipiert, dass sie bei der Detonation Fragmente zerkleinerten Metalls wie Kugeln in ein Ziel spritzen.

Das sich drehende Suchradar des Trägerfahrzeuges scannt den Luftraum im Radius von 25 Kilometern. Ist ein Ziel identifiziert, wird der Turm in dessen Richtung geschwenkt und das Feuerleit-Radar aufgeschaltet. Die hohe Zeit- und Ortsauflösung des Zielradars bildet die Voraussetzung für die hohe Treffergenauigkeit. Die Systeme können bis zu 48 Ziele parallel verfolgen und davon zwei gleichzeitig bekämpfen. Objekte bis hinunter zu einem Radarquerschnitt von rund 30 Quadratzentimetern werden erkannt. Im Umfeld von Störsignalen ist das Zielen bis zu einer Entfernung von 20 Kilometern auch visuell möglich. Die vollautomatische Reaktionszeit zwischen Zielerkennung und Start der Rakete wird bei stehendem Fahrzeug mit fünf bis acht Sekunden angegeben, aus der Bewegung beträgt die Reaktionszeit zehn Sekunden.

Russlands Top-Rakete Tor holt neun von zehn Drohnen vom Himmel

Das aktuell verwendete Computersystem markiert nach Expertenmeinung einen deutlichen Fortschritt gegenüber der sowjetischen Technologie der Vorgänger. Es erlaubt einen hohen Grad an Automatisierung im Abschuss-Prozess: Anfliegende Ziele können automatisch nach Gefährdungspotential klassifiziert und auch ohne Eingriff eines Bedieners bekämpft werden. Die acht Raketen werden durch ein spezielles Ladefahrzeug binnen zehn Minuten nachgeladen. Das kastenförmige Panzerfahrzeug führt acht aufrecht stehende Raketen mit. Verschiedene Quellen sprechen davon, dass die Genauigkeit der Raketen dazu führt, dass neun von zehn Drohnen vom Himmel geholt werden können.

Ihre Tor setzt Russland in der Ukraine zur Abwehr von feindlichen Spionage- und Angriffsdrohnen ein. Ohnehin hatte die Ukraine angekündigt, seine militärische Zukunft in der Luft zu suchen: Aufgrund ihrer bisherigen Erfolge schickt sich die Ukraine an, weltweit führender Hersteller von Drohnen zu werden, eine „Drohnenarmee“ aufzustellen, wie der stellvertretende ukrainische Ministerpräsident Mykhailo Fedorow angekündigt hat. Er zeichnet auch für die digitale Transformation verantwortlich. Drohnen bestimmen in Kürze vollends das Schlachtfeld – und auch die Ausrichtung der gegnerischen Luftabwehr. Wie das Nachrichtenportal ukrinform berichtet, hat die Ukraine allein in der Nacht zum 4. Dezember 18 Kampfdrohnen Shahed-136/131und einen Kh-59-Marschflugkörper Russlands abgeschossen.

Faktor Mensch: Putins Truppen müssen hellwach sein

„Drohnen spielen im Ukraine-Krieg eine nicht zu unterschätzende, große Rolle – sie haben gezeigt, dass die ursprüngliche Annahme, dass Drohnen in kleinen, asymmetrischen Kriegen eine große Rolle spielen können, falsch ist; sondern dass sie auch tatsächlich in großen Konflikten eine große Rolle spielen“, sagt der deutsche Oberstleutnant Rüdiger Rauch, Drohnenabwehrexperte im Verteidigungsministerium, im Bundeswehr-Podcast Nachgefragt. Mit der auf eine Reichweite von 15 Kilometern ausgelegten Rakete will Russland vor allem seine vorrückenden Bodentruppen schützen.

Das russische Luftverteidigungssystem SA-15 sei ein für die Verteidigung der Ukraine deshalb ein „kritischer“ Aktivposten in den Händen von Moskaus Truppen – allerdings, so die aktuelle Einschätzung der Briten: Die Aufrechterhaltung des Tor-Systems an der Front sei für seine Besatzung gleichermaßen eine „extreme Belastungsprobe“. Der Faktor Mensch bildet an diesem System also die weiche Flanke.

Der britische Geheimdienst urteilt, dass die Qualität des Systems zusammenhängt mit der Aufmerksamkeit der lediglich dreiköpfigen Crew, die im Einsatz den gesamten Tag über den Himmel absuchen müsse. Ihnen könnten schlicht die Augen vor Müdigkeit zufallen. Insofern ist die in der Ukraine eingesetzte Tor brandgefährlich für Freund wie Feind. Das war auch eine der Ergebnisse des Boing-Abschusses, wie der stern zitierte: Riki Ellison, Verteidigungsexpertin und Gründerin des us-amerikanischen Raketenabwehr-Thinktanks Missile Defense Advocacy Alliance, sagte, es wäre unmöglich gewesen, die Raketen nach dem Abschuss abzulenken, selbst wenn die Besatzung am Boden ihren Fehler erkannt hätte. Ellison: „Sobald man auf irgendwelche Dinger schießt, ist es vorbei.“

Gegen anfliegende Marschflugkörper steht die Tor allerdings eher mittelmäßig da, sagen Statistiken – bestenfalls holt sie neun von zehn Bomben vom Himmel. Im schlechtesten Fall nur sechs. Auch aus diesem Grund hätte „Panzer-Toni“ schon längst die deutschen Taurus an die Ukraine geliefert – im Ringen um die Lufthoheit über der Ukraine sieht Hofreiter im deutschen Zögern ein, wie er sagt, „verheerendes Signal“. (Karsten Hinzmann)

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