Migration in Deutschland: Dieses EU-Urteil könnte eine Zeitenwende sein
Die EU-Staaten erwarten gespannt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Es geht um wegweisende Entscheidungen für die europäische Asylpolitik.
Luxemburg/Rom/Berlin – Der Europäische Gerichtshof (EuGH) prüft zurzeit die Rechtmäßigkeit des sogenannten „Albanien-Modells“ der italienischen Regierung. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni will bestimmte Asylverfahren in albanischen Lagern durchführen, um Geflüchtete aus sicheren Herkunftsländern schneller abschieben zu können.
Im aktuellen EuGH-Prozess wird vor allem über die Definition von „sicheren Herkunftsländern“ verhandelt – und wer diese Länder bestimmen darf. Das Urteil wird am Freitag (1. August) erwartet und könnte auch für Deutschland enorme Auswirkungen haben.
Es geht um die Frage, ob ein italienisches Gesetzesdekret mit dem Recht der Europäischen Union vereinbar ist. Melonis Regierung bestimmte mit dem Gesetz, welche Drittländer als sicher gelten – darunter Bangladesch. EuGH-Generalanwalt Richard de la Tour legte nun in seinem Schlussantrag einen Entscheidungsvorschlag vor. Darin erklärte er seinen Zweifel am asylpolitischen „Albanien-Modell“ der italienischen Regierung.
EuGH-Generalanwalt zweifelt an Italiens „Albanien-Modell“
Seine Begründung: Zwar dürften EU-Mitgliedsländer wie Italien für ihre Asylverfahren sichere Herkunftsländer selbst bestimmen. Aber: Die entsprechenden Regelungen – auf welchen Quellen diese Einschätzung der nationalen Regierungen basieren – müssten offengelegt werden, damit die nationalen Gerichte diese überprüfen können.
Außerdem könnten Staaten auch dann als sicher eingestuft werden, wenn einzelne Personengruppen dort nicht sicher sind – aber nur unter der Voraussetzung, dass der Herkunftsstaat demokratisch ist und die betroffenen Gruppen schützt. Bei gefährdeten Personengruppen, etwa Homosexuellen, dürften beschleunigte Asylverfahren nicht durchgeführt werden, sagte de la Tour. Sein Vorschlag gilt als rechtliche Einschätzung. Der EuGH ist daran rechtlich nicht gebunden und kann auch zu einem anderen Urteil kommen.

Der deutsche EU-Parlamentarier Erik Marquardt begrüßt, dass nun höchstrichterlich geprüft wird, welche Kriterien und Grenzen für die Auslagerung von Asylverfahren gelten. „Viele EU-Staaten haben sich mit ihrer Abschottungspolitik über die eigenen Gesetze und die Menschenwürde gestellt. Ich hoffe, dass das Urteil dieser Entwicklung entgegenwirken kann“, sagte der Grünenpolitiker dem Münchener Merkur von IPPEN.MEDIA.
EU-Abgeordneter bezeichnet Italiens „Albanien-Modell“ als „rechtspopulistische Luftschlösser“
Seine Vermutung: Sollte das Gericht diese Auslagerung von EU-Recht nicht grundsätzlich verbieten, werde es wahrscheinlich klare Kriterien und Transparenzpflichten für solche Modelle geben. „Schon jetzt sind die rechtlichen, praktischen, aber auch finanziellen Hürden so hoch, dass diese Modelle eigentlich rechtspopulistische Luftschlösser sind“, meint das EU-Ausschussmitglied für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres. Zu diesem Ergebnis kam vor wenigen Monaten auch eine Expertenkommission des Bundesinnenministeriums.
Laut der EU-Abgeordneten Lena Düpont (CDU) könnte das Urteil eine Signalwirkung für ganz Europa schaffen: Sollte der EuGH hohe Anforderungen für die Zusammenarbeit mit Drittstaaten formulieren, „ist es umso wichtiger, dass die EU künftig verlässliche und rechtskonforme Partnerschaftsmodelle mit Drittstaaten entwickelt, idealerweise europäisch koordiniert“, sagte sie unserer Redaktion.
Als erster EU-Staat wollte Italien gewisse Asylverfahren in Albanien und damit außerhalb der Europäischen Union ansiedeln: Wenn Migranten im Mittelmeer aufgegriffen werden, müssen diese in eigens errichtete Lager nach Albanien gebracht werden. Innerhalb von 28 Tagen sollen die Behörden über die Asylanträge entscheiden, ohne dass die Geflüchteten italienischen und somit EU-Boden betreten.
In den Lagern sollen nur erwachsene Männer aus sogenannten sicheren Drittstaaten untergebracht werden, keine Frauen und Minderjährige. Wer Anspruch auf Asyl hat, darf nach Italien einreisen. Abgelehnte Bewerber werden in ihre Heimatländer abgeschoben.
Italiens Meloni-Regierung erstellte eigene Liste mit Drittstaaten
Die rechte Regierung in Italien hatte eine eigene Liste sogenannter sicherer Drittstaaten erstellt, um Rückführungen zu beschleunigen. Ob Meloni dazu befugt ist und ob die Liste rechtmäßig ist, soll der EuGH am Freitag entscheiden.
Der EU-Abgeordnete Marquardt kritisiert das italienische „Albanien-Modell“ scharf: „EU-Staaten sollten selbst Verantwortung für Schutzsuchende übernehmen und diese Verantwortung nicht auslagern. Besonders gefährlich sind auch die Angriffe der rechtsradikalen italienischen Regierung auf die Gerichte, die den Regierungsideen wiederholt einen Riegel vorgeschoben haben.“ Solche Tendenzen gebe es auch in Deutschland.

Marquardt sieht Melonis Drittstaaten-Strategie als gescheitert. „Italien hat Hunderte Millionen Euro in Lager investiert, die jetzt – zu Recht – leer stehen“, sagte der 37-Jährige.
Düpont von der CDU widerspricht: „Innovative Ansätze wie das italienisch-albanische Modell sind ein wichtiger Baustein für eine wirksame und faire Migrationspolitik. Sie zeigen, dass die Mitgliedstaaten bereit sind, neue Wege zu gehen, um irreguläre Migration besser zu steuern, Verfahren zu beschleunigen und Rückführungen durchzusetzen, bei gleichzeitiger Wahrung internationaler Schutzstandards“, sagte das Ausschussmitglied für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres. Wer Migration ernsthaft steuern wolle, dürfe sich nicht in ideologischen Debatten verlieren, sondern müsse solche Lösungen aktiv voranbringen.
Gerichte in Italien blockieren Melonis Migrationspolitik und verweisen an EU
Zuvor hatten italienische Richterinnen und Richter wiederholt die Überstellung von Migranten nach Italien angeordnet, die in Albanien festgehalten wurden. Nachdem ein Gericht in Rom die Überstellung von 43 Geflüchteten aus Ägypten und Bangladesch angeordnet hatte, beschlossen die verantwortlichen Richter, die Angelegenheit an den EuGH zu verweisen.
Im aktuellen Prozess geht es konkret um zwei Geflüchtete aus Bangladesch. Das Gericht muss entscheiden, ob deren Asylanträge zu Recht im Schnellverfahren an der Grenze als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurden, weil sie aus einem sicheren Drittland kämen. Die beiden Betroffenen waren zunächst in ein albanisches Lager transportiert worden.
Das Albanien-Modell hatte einen Streit zwischen Melonis Koalition und der italienischen Justiz ausgelöst. Die Regierung wirft den Richterinnen und Richtern vor, den Aufenthalt von Asylsuchenden in den albanischen Lagern aus politischen Gründen zu untergraben.
Rechtsanwalt kritisiert Meloni-Regierung scharf
Italiens Oppositionsparteien begrüßten die richterlichen Entscheidungen: „Wie sich jeder Mensch mit gesundem Menschenverstand hätte vorstellen können, ist eine weitere Abschiebung von Migranten nach Albanien gescheitert“, sagte Nicola Fratoianni, Vorsitzender des Grünen-Links-Bündnisses, wie die Tagesschau zitierte.
Der Rechtsanwalt Dario Belluccio, der einen der betroffenen Asylbewerber aus Bangladesch im aktuellen EuGH-Prozess vertritt, erhofft sich von dem Verfahren auch die Klärung einer politischen Frage: „Wir müssen uns entscheiden, ob wir ein einheitliches Asylsystem in Europa wollen – oder ob jeder Staat seinen einzelnen Weg gehen will“, sagte der Jurist der ARD-Rechtsredaktion.
Er kritisierte das Vorgehen der Meloni-Regierung scharf. Italien würde im Akkord die Liste der sicheren Herkunftsländer erweitern. Mittlerweile seien es 19 Staaten. Dabei seien in einigen dieser Länder bestimmte Menschen gefährdet.
Deutschlands Innenminister Dobrindt will Abschiebungen in Nicht-EU-Staaten
Erst vor wenigen Tagen hatte sich Deutschlands Innenminister Alexander Dobrindt für ein gemeinsames europäisches Vorgehen bei Abschiebungen in Drittstaaten ausgesprochen. Der CSU-Politiker plädierte für Abschiebezentren außerhalb der EU. Laut der Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) sind die Asylanträge in Deutschland im ersten Halbjahr bereits deutlich zurückgegangen.
Nach dem Willen der EU-Kommission sollen Asylbewerber künftig leichter in andere Staaten abgeschoben werden können – auch dann, wenn sie keine Verbindungen zu dem entsprechenden Staat haben. Für diesen Plan benötigt die Europäische Union die Kooperation mit Drittstaaten, die Abschiebezentren – sogenannte „Return Hubs“ – auf ihrem Boden errichten.
Zuletzt hatte die EU-Kommission einige Migrationsvereinbarungen – etwa mit nordafrikanischen Staaten – getroffen, beispielsweise mit Tunesien, Marokko und Ägypten. Diese Länder haben ihren Grenzschutz verstärkt, hindern Fluchtwillige an der Fahrt über das Mittelmeer und bekämpfen Schlepper und Schleuser. Im Gegenzug bekommen sie EU-Gelder. Abschiebezentren wären ein nächster Schritt.
GEAS soll EU-Migration besser steuern
Menschenrechtsorganisationen kritisieren die EU-Vorhaben, Betroffene würden enormen psychischen Belastungen ausgesetzt werden. Ähnlich argumentierte auch die EU-Abgeordnete Birgit Sippel (SPD) mit Blick auf Drittstaaten: „Schutzsuchenden droht so die Abschiebung in ein Land, zu dem sie keinerlei Verbindung haben und in dem sie keine realistische und nachhaltige Bleibeperspektive haben.“
Ab 2026 soll das bereits beschlossene neue Gemeinsame Europäische Asylsystem – kurz GEAS – die Migrationsprobleme innerhalb der EU lösen. In Einrichtungslagern an der EU-Außengrenze sollen Flüchtende systematisch identifiziert und registriert werden. „Die Registrierungen und ersten Prüfungen dauern maximal sieben Tage“, sagte Sippel dem Münchener Merkur von IPPEN.MEDIA. „Und weil wir dann wissen, wer kommt, können wir direkt danach die Zuständigkeiten für die EU-Staaten feststellen.“ Wer etwa in Italien ankomme, aber Verwandte in Frankreich habe, würde dort das Asylverfahren durchlaufen.
Laut Düpont wird die EuGH-Entscheidung richtungsweisend für die GEAS-Ausgestaltung sein: „Sie darf nicht dazu führen, dass notwendige Handlungsspielräume der Mitgliedstaaten unzulässig eingeschränkt werden. Die EU braucht ein robustes, rechtsstaatlich fundiertes System, das auf effiziente Verfahren, klare Zuständigkeiten und eben auch strategische Partnerschaften mit Drittstaaten setzt“, sagte die Christdemokratin.
EU-Migrationskommissar Magnus Brunner sagte zuletzt, dass die einzelnen EU-Staaten über ihre Abschiebungen entscheiden könnten. Die Kommission wolle dafür aber einen rechtlichen Rahmen schaffen. Darüber soll der EuGH nun Klarheit schaffen.